Astrid Petermeier

Neues aus dem Rührgebiet

Reisend verlesen, lesen statt reisen, lesend verreisen

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wenn das kein feiner Zungenbrecher ist – ganz unabsichtlich aus den Tasten geflossen.
Mit dem Sommerurlaub ist es in diesem Jahr so eine Sache: ich muss sagen, dass ich das Wort REISEN fast schon nicht mehr hören kann. Es kommt mir vor, als sei der Sommerurlaub in den Kanon der Menschenrechte aufgenommen. Wer es sich leisten kann, stürzt sich auf die deutschen Urlaubsregionen (da möchte ich jetzt auch nicht wohnen) und wer sich’s nicht leisten kann, stellt sich vor eine Kamera und jault.*
Dabei hindert uns niemand daran, im Kopf zu verreisen. Also zu lesen. Auf dem Sofa, dem Balkon oder im Park. Nach jedem Kapitel eine Runde spazieren, zappeln, rennen – für die Gesundheit, gegen die Corona-Plauze.
Buch-Rezensentin wollte ich noch nie werden. Aber euch meinen Lieblingsschmöker und ein paar selbst geschriebene Sachen empfehlen, das kann ich.

* Schon klar: jetzt wird mir meine arrogante Haltung um die Ohren gebürstet: 1. Zuhause kann man sich nicht erholen, weil z. B. dauernd der Chef anruft. Zwingt mich irgendwer, abzuheben? Hat der ein Recht, mich im Urlaub anzurufen? 2. Du hast ja keine Kinder. Richtig. Aber wer Kinder hat, hat sie auch auf Reisen. 3. Reisen bildet. Volle Zustimmung. Lesen soll der Bildung aber auch nicht gerade abträglich sein und wer mich jetzt noch auf das Elend der Touristikbranche aufmerksam machen möchte, kann gern meinen Beitrag „Der gebildete Fußabdruck“ lesen. Oder diese Sachen:

Reisen wir also lesend im Kopf und zwar 1. nach Paris, 2. nach Rom und Florenz, 3. und 4. in die Dortmunder Nordstadt. (wo die Literatur zu finden ist, ergibt sich aus den Verlags-links)

1. Virginie Despentes: Das Leben des Vernon Subutex 1-3, Kiepenheuer + Witsch 
Nach anfänglicher Verwunderung und leichtem Stottern im 2. Kapitel habe ich diese Trilogie regelrecht gefressen. Warum ich stotterte? Das zweite Kapitel erzählte auf einmal von einer völlig anderen Person, so als begänne ein anderes Buch. Im dritten Kapitel hatte ich es kapiert: Diese Geschichte wird aus der jeweiligen Sicht aller handelnden Personen erzählt. Es ist die Geschichte von Vernon Subutex, der in jungen Jahren einen Plattenladen in Paris besaß, der Pleite ging und zu Beginn gar obdachlos wird. Bis er seine Obdachlosigkeit lieben lernt, wohnt er rundum bei den vielen FreundInnen aus alten Zeiten und das sind skurrile Persönlichkeiten aus verschiedensten Milieus: Der reich verheiratete Drehbuchautor, die Pornodarstellerin, der laiizistische Gelehrte mit der religiösen Tochter Aisha, die das Kopftuch anlegt, der liebenswürdige aber gewalttätige Rocker, der Säufer, der im Lotto gewinnt… Ihre Sichten auf sich selbst und das Leben haben mich in Gefielde und Denkweisen mitgenommen, denen ich mich sonst lieber verweigere. Ich mochte die Zuneigung, mit der sich Virginie Despentes jeder ihrer Figuren widmet und ich war beeindruckt von den vielen Orten und Milieus in und um Paris, zu denen ich keinen Zugang habe.
Anbei entspinnt sich wie eine Spirale die Geschichte um das gefährliche Wissen, das Vernon Subutex seit dem Tod eines Musikerfreundes über die Gewalt an Aishas verstorbener Mutter hat. Sie alle werden hineingezogen wie in einen Sog aus seltsamen Klängen….

2. Astrid Petermeier: Magdalenas Magischer Moment, Tredition 2020


1622 malte Artemisia Gentileschi das Bild „Magdalena als Melancholie“. 2020 entführen eine Kunsthistorikerin und eine Astrologin uns in die Entstehungsbedingungen dieses Gemäldes: in einen Vergewaltigungsprozess von 1611 in Rom, in den Kampf um die Anerkennung als Malerin im Florenz von 1616, in die (belegte!) Bekanntschaft der Künstlerin mit Galileo Galilei, der das Horoskop ihres magischen Momentes deutet, in die römische Künstlerszene von 1622 und in eine Meditation in der Einsamkeit der Albaner Berge. Alle diese kleinen Geschichten führen zur Erklärung der Details des Magdalena-Bildes, das selbst einen magischen Moment darstellt.
Was ist ein Magischer Moment, fragen sich die beiden Erzählerinnen. Erleben wir so etwas auch? Sind das angenehme Erlebnisse? Und was ist Melancholie? Etwas zum Fürchten oder eine Lebensphase, die Rückblick und Verstehen möglich macht?
Das Buch ist kein historischer Roman. Vielmehr erlauben sich die beiden Erzählerinnen sowohl Fiktion als auch das Zitieren aus Prozessakten. Wenn sie das Facebook des 17. Jahrhunderts erfinden müssen, um in den Kommentaren die Moralvorstellungen der Zeit zu verdeutlichen, schrecken sich auch davor nicht zurück. Nicht zuletzt ist es Kunstgeschichte: „So, du möchtest von mir also das Bild erklärt haben. Eines vorweg: dieses Bild ist ein vielschichtiger Farbauftrag mit einem Motiv. Grins nicht. So einfach ist es. Spannend, anregend, fragend, aufregend wird es durch das, was ausgedrückt wird, was bei der Betrachterin in Resonanz geht und was dahinterliegt. Und dafür tauchen wir jetzt tief ein in Artemisia Gentileschis Gedankengänge im Jahr 1622 in Rom.

Leseprobe und Entstehungsgeschichte des Buches gibt es hier.

3. Nordstadttagebuch 1993 – 2020

(Kunstwerk von Gudrun Kattke)

Ich lebe seit 1993 in der Nordstadt und versuche anhand von Tagebüchern herauszufinden
– wie dieser Stadtteil sich verändert hat
– wie dieser Stadtteil mich verändert hat.
Während ich daran schreibe fällt mir auf, wie viele absurde, witzige und auch beängstigende Erfahrungen ich hier in 27 Jahren gemacht habe. Manchmal frage ich mich, ob ich das magisch anziehe oder ob es typisch Nordstadt ist und ob mir das woanders auch und ähnlich passiert wäre. Vielleicht kann mir das ja eine sagen, die es liest? Das Tagebuch ist noch work in progress,  es lohnt also, immer mal wieder reinzuschauen. (zu finden unter der Rubrik „Kurzgeschichten“)

Außerdem bin ich seit 2014 auf meiner „Reise zu den Sternen der Nordstadt“.


Wer also nicht nur lesen, sondern in echt auf eine Nordstadtreise gehen will, kann sich hier genüsslich umtun. Ich versuche dabei, astrologische Prinzipien, also die Bedeutung der Planeten anhand von Orten zu erläutern, die es in der Nordstadt gibt (oder gab. Die Zeit vergeht und mit ihr auch einzelne meiner Nordstadtsterne. Ich werde neue finden, versprochen).

Die beiden letzten Lesetipps gibt es nur auf dieser Homepage, den nächsten aber als Buch:

4. Astrid Petermeier: Kunst gegen Kohle. Krimineller Schelmenroman aus dem Ruhrgebiet. Tredition 2017


Und wieder entführe ich euch in die Nordstadt, wo vier Künstler*innen und ein Hausmeister so Pleite sind, dass sie ihre Mieten nicht mehr zahlen können. Was bleibt, ist ein Bankraub, bei dem sie ausgleichsweise Kunst zurücklassen: Kunst gegen Kohle!
Wie kriegen sie das hin, ohne dass die chaotisch-liebenswerten Nebenans was mitkriegen? Woher nimmt man ein skurriles Alibi? Verbietet es nicht die Moral, dafür den Islamisten zu spielen oder Geiseln in Todesangst zu versetzen? Und was tun, falls die Sache klappt und die Presse so begeistert reagiert, dass man berühmt wird? Welche Künstlerin kann dieser Verlockung entgehen und anonym bleiben?
Noch ein wenig über diesen Roman gibt es hier.

Ich wünsche einen ruhigen Sommer, auch denen, die das Reisen nicht lassen und trotzdem lesen wollen.

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