Astrid Petermeier

Neues aus dem Rührgebiet

FRIEDEN UND GERECHTIGKEIT – DIE KRACHER UNTER DEN NEUJAHRSWÜNSCHEN

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Als Nordstadtbewohnerin bin ich heute, gegen Ende der ersten Januarwoche, selig, dass die Knallerei ein Ende hat. Für meine Ohren, mein Herz und für meine Atmung war das Maß des Erträglichen so sehr überschritten, dass ich mir die Durchsetzung einer Ordnung wünschte, die die bomben-detonations-ähnlichen „Polenkracher“ von der Straße treibt. Zugegeben, ich wünschte den Jungs mit den Monsterböllern sogar eine Woche „Urlaub“ in Aleppo – auf dass sie die Begriffe Frieden und Gerechtigkeit dort hautnah erfahren können.
Prompt stellt sich die Frage, ob mein keineswegs frommer Wunsch etwas mit Gerechtigkeit zu tun hat. Ist es ausgleichende Gerechtigkeit, wenn ich denen, die mich in Schrecken versetzen, die Angst des Krieges wünsche? Weil sie mich auslachen oder mit Böllern bewerfen, wenn ich ihnen Topfdeckelschlagen zum Vertreiben der Geister des alten Jahres vorschlage? Was ich mir wünsche, ist Verstehen – unbedingte Voraussetzung für Gerechtigkeit.
Ein guter Grund, sich mit den Vorstellungen von Frieden und Gerechtigkeit zu befassen, die die Menschen seit der Antike umtreiben. Bei unserer „Reise von der Gotik zu den Sternen – Tarot, Kunst und Astrologie in der Toskana“ im April dieses Jahres werden wir verschiedenen Bild-Konzeptionen dieser Begriffe begegnen. Genau die möchte ich jetzt auch denen vorstellen, die nicht mit uns reisen können (freie Plätze gibt’s aber noch!).

Im Rathaus von Siena gestaltete der Maler Ambrogio Lorenzetti von 1338 – 1340 einen ganzen Saal mit Sinnbildern auf die GUTE UND DIE SCHLECHTE REGIERUNG und ihren jeweiligen Auswirkungen auf Stadt und Land.

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Ambrogio Lorenzetti, Allegorie der guten Regierung, 1338-40, Siena

Lorenzettis Bilder, die in die Welt von Tugenden und Lastern entführen, sind etwa ein Jahrhundert vor den ersten Tarotkarten entstanden. Die Gedanken hinter seinen Gemälden und hinter den Tarotkarten sind grundsätzlicher Natur, befassen sich mit dem Leben, dem menschlichen Wesen und der Organisation von Gemeinschaft. Wir können seine Bildwelt als Vor-Bilder von/für Tarotkarten verstehen. Die Frage danach, was Frieden, was Gerechtigkeit ist und wie sie geschaffen werden können, ist eine, die uns von heute bis übermorgen noch beschäftigen wird.
Lorenzettis Gemälde sind von einer Detailfreude, die zu Entdeckungsreisen von moralischen Begriffen  bis zu Alltagsgegebenheiten verführt (z.B. Handel + Unterricht in der Stadt oder: Landleben – auch ein Wildschwein geht gern mal spazieren).

lorenzetti stadt handelBLOG   lorenzetti Land ReiterBLOG

Diesen Spaß gönnen wir uns bei der Reise, hier knöpfe ich mir nur zwei allegorische Ausschnitte vor.

Abhängig ist das friedvolle Leben in Stadt und Land von der GERECHTIGKEIT, die im Bild der „Guten Regierung“ keineswegs allein da sitzt, sondern als Dreigespann auftaucht, das durch Waage und Schnüre miteinander verbunden ist.

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Über der JUSTITIA schwebt ein golden-geflügeltes Wesen, das ein rotes Buch in der Hand hält. Es ist SAPIENTIA, die Weisheit. Ihr Schleier um Kopf und Kinn kennzeichnet sie als alte Frau, die wir im ältesten bekannten Tarot (Visconti-Sforza von 1425) in der Hohepriesterin wiederfinden. Im heute meistens gebrauchten Tarotdeck von Edward Waite und Pamela Smith ist sie jung geworden (was ihr auch erstmal einer nachmachen soll) und trägt an Stelle des Buches eine Tora-Rolle.

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1. Visconti-Sforza, 2. Waite-Smith, 3. Lorenzetti Sapientia

Wenn wir heute an Sinnbilder der Gerechtigkeit/Justitia denken, schwebt uns die Dame mit den verbundenen Augen und der Waage vor. Gewiss sollte Justitia blind sein, um unterschiedliche Stände der Gesellschaft eben nicht unterschiedlich zu beurteilen. Zu Lorenzettis Zeit war sie von Sapientia abhängig, um den Zusammenhang zwischen dem von Menschen gemachten Recht und der göttlichen Ordnung darzustellen, die auch NATÜRLICHE Ordnung genannt wurde. Der Zustand unserer Erde lässt die Frage aufkeimen, warum Sapientia (Weisheit, die auch Weitsicht fordert) unter Regierenden und Gesetzgebern heutzutage so völlig aus der Mode gekommen ist.
Sapientia ist es, die den Griff der Waage in der Hand hat, die von Justitia mit beiden Daumen im Gleichgewicht gehalten wird (von nun an gilt es, ein wenig zu den Bildern rauf- oder runter zu scrollen, denn ich mag sie nicht zig-fach abbilden). Die sitzt auf einem reich geschmückten Thron und schaut himmelnd zu Sapientia auf. Ein Blick, bei dem mir übrigens sogleich ungezählte Lady-Di-Fotos einfallen, die meisterlich himmeln konnte.

blickJustitiaBlog BlickLady Di

Liebt die Gerechtigkeit, ihr, die ihr die Welt regiert.“ lautet der Spruch, der von der Krone Justitias zu den beiden Engeln auf den Waagschalen führt. Was sind das für Engel und was tun sie da?
Der Engel im roten Kleid entspricht der JUSTITIA DISTRIBUTIVA, der austeilenden Gerechtigkeit. Er köpft einen Mann, vor dem Dolche liegen. Ein zweiter vor ihm knieender Mann hält einen Palmwedel, das Zeichen der Gewaltlosigkeit. Er wird vom Engel gekrönt. Von der austeilenden Gerechtigkeit wird also der Gewalttäter gestraft, der Gewaltlose belohnt.

justitiaDistributivaBlog justitiaCommutativa

Die Waagschale mit dem Engel im weißen Kleid ist mit JUSTITIA COMMUTATIVA beschriftet: ausgleichende Gerechtigkeit. Vor ihr kniet ein Mann in grünem Kleid, der ein Hohlgefäß vor sich hält, in das der Engel prüfend seine Hand streckt. Ein zweiter Mann im gelben Kleid reicht dem Engel lange Stäbe, die ebenso wie das Hohlgefäß dem Bemessen von Gütern dienen. Man könnte sagen, dass die Darstellung von Maßeinheiten in einer Handelsstadt wie Siena von höchster Wichtigkeit war und deutlich vor dem allseits beliebten Betrug warnte. Heute hingegen sind Schummelpackungen Gang und Gäbe, denn solange irgendwo klitzeklein aufgedruckt ist, wie wenig sie enthalten, ist der Gerechtigkeit doch genüge getan.
Zusammen bilden die austeilende und die ausgleichende die SOZIALE GERECHTIGKEIT, auf der die Eintracht der Menschen aufbaut. Zwei Seile fallen locker aus jeder Waagschale des Lorenzetti-Bildes und laufen in der Hand einer Frau zusammen. CONCORDIA, die Eintracht, trägt keine Krone und sitzt auf einem einfachen Holzstuhl. In der römischen Tradition galt sie als Tochter Justitias. Sie dreht die beiden Seile zu einer Kordel, denn doppeltes Band bedeutet Sicherheit. (mir geistert da eine Melodie mit dem doppelten Band der ??? durch den Kopf. War’s eine Versicherungs-Werbung? Wer es zu fassen kriegt, kann es mir ja im Kommentar mitteilen.) Diese Kordel wird von Concordia an die Reihe der Bürger Sienas weitergegeben, die sie bis zum Herrscher durchreichen (auch dieser Herrscher ist eine symbolische Figur, denn Siena war eine der frühen Stadtrepubliken der Toskana). Was lugt da aus Concordias Holzkasten? Ein Hobel, der dem harmonischen Zusammenfügen oder Glätten von Einzelteilen dient. Aufrufe zur Eintracht finden wir im Gemälde über die „Auswirkungen der guten Regierung auf die Stadt“ wieder: zum Beispiel in den tanzenden Mädchen; die schon lange vor der Erfindung der Eurythmie ein S wie Siena tanzten.

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Lorenzetti stellte ebenso das Gegenteil, die Schlechte Regierung mit ihren Auswirkungen auf das Land dar. Hier ist die Gerechtigkeit gekettet und sogar an den Beinen von Fesseln umschlungen. Siehe da, dort finden wir das Gegenstück zum Hobel: die Allegorie der DIVISIO benutzt eine Säge, um sich selbst zu zerteilen.

Machen wir einen Sprung ins 20. Jahrhundert, von Siena in die südliche Toskana:

Der Gegensatz von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit findet sich in Niki de Saint Phalles Tarotgarten wieder. Wenn wir nah vor ihrer überlebensgroßen Figur der GERECHTIGKEIT stehen, befinden wir uns erstmal vor einem Gittertor mit einem riesigen Vorhängeschloss.

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Dahinter bewegt eine aus Rostteilen bestehende Maschine Tierschädel, Ketten, ein Skelett, zerfetzte Stoffstücke, Knochen, verkohltes Holz. Es mahlt, knirscht und quietscht in einer Weise, die vermutlich nicht mal meine böllerwerfenden Jugendlichen entzücken würde. Die Ungerechtigkeit ist hier eingesperrt – und zwar von Niki de Saint Phalles Partner Jean Tinguely. Erst mit Abstand, also Weitsicht wird die Gerechtigkeit erkennbar, die einzige schwarz-weiße Figur im sonst so farbenfrohen Tarotgarten. Geht es um Gerechtigkeit als Schwarzweißmalerei oder um Klarheit, um Licht und Schatten?
„Die Gerechtigkeit setzt Selbsterkenntnis voraus. Um gerecht zu sein, muss man sich selbst beurteilen und sich mit seinen eigenen Schatten auseinandersetzen können.“ schreibt die Künstlerin.
Ihre Waagschalen sind ihre Brüste, also nährende Organe – im Gegensatz zu den klapprigen Knochen der Ungerechtigkeit. Erst auf den dritten Blick mag auffallen, wo die Ungerechtigkeit eingesperrt ist. Wie sagte Brecht? „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“

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Auch auf der Karte des Tarots von Waite und Smith ist die Gerechtigkeit nicht blind. Sie ist nicht im Sinne von Gesetz, Richten, sozialer Gerechtigkeit gemeint, sondern als psychisches Gesetz „nach dem wir uns entsprechend unserer Fähigkeit, die Vergangenheit zu verstehen, entwickeln können, (… um) die Wahrheit über uns und das Leben zu erkennen.“ (Rachel Pollack). Die Waagschalen bilden demnach ein Gleichgewicht zwischen Vergangenheit und Zukunft – als Ausgewogenheit zwischen dem, was wir aus der Vergangenheit gelernt haben und der Entscheidung, die wir im Jetzt treffen und die sich auf die Zukunft auswirken wird. Das Schwert ist in diesem Tarotdeck das Symbol des Elements Luft, also des Intellekts, der Handlung, der Weisheit. Womit wir wieder bei Lorenzettis Sapientia wären, der Weisheit, die die Waage der Gerechtigkeit in den Händen hält.

Eine deutliche Verbindung – um nun endlich auch mal auf den FRIEDEN zu sprechen zu kommen – zwischen dem Waite-Smith-Tarotdeck und dem Gemälde Lorenzettis finden wir in der Figur der PAX.

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So ähnlich diese Bilder erscheinen: der Begriff des Friedens taucht in keinem Tarotdeck auf. Vielmehr handelt es sich hier um das Bild der HERRSCHERIN, die eine Vision von Frieden gibt, die über Lorenzettis Pax hinausgeht.
PAX lehnt lässig auf einem bestickten Kissen, unter das sie ihren abgelegten Waffenrock geknüddelt hat. Ihre bloßen Füße stehen auf Schild und Helm. „Mit der Pax verbindet sich im römischen Denken immer die Vorstellung des vorangegangenen Sieges.“ (Dagmar Schmidt)
Im Zusammenhang der gesamten „Guten Regierung“ fällt die Sonderstellung der Pax auf. Sie ist die einzige Tugend, die sich durch Lässigkeit auszeichnet, sie beansprucht am meisten Platz auf der Bank der Ratgeberinnen, sie bringt Helligkeit ins Bild und bildet die Spitze eines Dreiecks, dessen Basis aus der Reihe der Bürger besteht. Ihr Blick schweift in die Weite – genauer gesagt: auf die Wand, auf der das muntere und friedliche Treiben in der Stadt als Auswirkung der guten Regierung dargestellt ist.

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Dagmar Schmidt nennt sie „den Spiegel der Glückseligkeit“ oder – wegen ihres durchsichtigen Gewandes – „die große Verführerin, die den Läuterungsprozess als Sehnsucht in Gang setzt.“
Die Herrscherin des Tarot ist die Nummer 3 von 22 Karten der großen Arkana. Sprich: auch sie will als Anfängerin einen Prozess in Gang setzen, denn das Tarot ist als Entwicklungsspiel zur Selbsterkenntnis aufgebaut. Im Gegensatz zu Lorenzettis Pax sind bei ihr die Waffen nicht unnütz geworden: sie hat schlichtweg keine nötig. Denn sie sitzt bereits in einem blühenden Garten, der Nahrung und Nährung anbietet und bietet so ein Sinnbild des Friedens.

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Dieses Motiv nimmt Niki de Saint Phalle mit ihrer IMPERATRICE (Herrscherin oder Kaiserin) wieder auf: eine bunte Sphinx mit riesigen Brüsten, in der die Künstlerin während der zwanzigjährigen Arbeit an ihrem Tarotgarten wohnte – inklusive Küche, Bad und Schlafzimmer.
„Die Kaiserin ist die große Göttin. Sie ist Himmelskönigin, Mutter, Hure, Emotion, heilige Magie und Kultur. (…) Jahrelang lebte ich in dieser beschützenden Mutter. Hier fanden meine Besprechungen mit der Arbeitsequipe statt. Hier tranken wir Kaffee und Tee. Auf alle übte sie eine fatale Anziehungskraft aus.“ Fatal? Die magische Anziehungskraft des rundum spiegelnden Innenraums bewirkte, dass Niki de Saint Phalle darin selten Zeit und Frieden für sich ganz allein hatte.

Bei unserer „Reise von der Gotik zu den Sternen“ (11. bis 17. April 2018) können wir uns kreuz und quer durch Lorenzettis Gemälde in Siena tummeln, werden Niki de Saint Phalles Tarotgarten besuchen und vor allem: den Frühling in der Toskana genießen. Eine genaue Reisebeschreibung mit Anmeldung und Preisen findet ihr hier. Es gibt noch freie Plätze, wir bitten aber unbedingt um Anmeldung bis zum 30.1.2018.

Literatur zu diesem Beitrag:
Rachel Pollack: Tarot. 78 Stufen der Weisheit. München 1985
Niki de Saint Phalle: Der Tarot-Garten, Bern 2000
Dagmar Schmidt: Der Freskenzyklus von Ambrogio Lorenzetti über die gute und die schlechte Regierung. Dissertation Universität Sankt Gallen 2003

3 thoughts on “FRIEDEN UND GERECHTIGKEIT – DIE KRACHER UNTER DEN NEUJAHRSWÜNSCHEN

  1. „Grau ist alle Theorie“ ist einfach köstlich.

  2. Das war – Mitte der 70ziger – die Dresdner Bank.

    Sehr detail- und informationsreicher Artikel, der Lust auf mehr macht!

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