Astrid Petermeier

Neues aus dem Rührgebiet

1996 – 2003: Mit energy in die Nordstadt – als Galeristin und Vermieterin

Alle Namen in diesem Tagebuch sind geändert!

Sommer 1995
Ich arbeite für eine Kunstgalerie in Hamburg und pendle zwischen der Hansestadt und Dortmund, wo Hartmut und ich Ausstellungen für Firmen organisieren. Es ist eine hochgradig anstrengende Lebensweise, die nur wenig mit Selbstbestimmtheit zu tun hat. Als Hartmut Geld erbt, kommt ihm die Idee, ein Mietshaus zu kaufen, in dem wir eine eigene Galerie eröffnen können. Es ist nicht leicht, mich von diesem Plan zu überzeugen, denn mir schwebte für mein Leben weder Besitz noch die Rolle der Vermieterin vor. Zwei Argumente jedoch sind bestechend: in unserer Galerie entscheide ich, welche Kunst wir wie ausstellen. Und: wenn’s nicht hinhaut, wird das Ganze eben wieder verkauft.
Schnell wird klar, dass in unserer Preisklasse nur die Nordstadt in Frage kommt – eine Kröte, die Hartmut schlucken muss und die mein Herz hüpfen lässt. Ich bin hier zur Schule gegangen, zum Einstein-Gymnasium, was meine Eltern schon in den frühen 70ern beunruhigte. Die Nordstadt hatte nie den besten Ruf: „Im Westen die Besten, im Osten die Posten, im Süden die Müden, im Norden die Horden.“
Nachdem wir allerhand verrottete Hütten angesehen haben, finden wir unser Haus: vier Etagen mit 7 Wohnungen, ein leerstehendes Ladenlokal zur Straße hin, ein flaches Werkstattgebäude im Hinterhof. Daraus soll die Galerie werden.

1. 1. 1996
Der Kaufvertrag für das Haus ist unterschrieben, die Sparkasse hat den notwendigen Kredit zugesagt, wir haben also allen Grund zum Feiern.
Wo? Im leerstehenden Ladenlokal, denn die Werkhalle ist noch unwirtlich. Es kommen Freundinnen aus Hamburg und Frankfurt, sogar Hartmuts nach New York ausgewanderter Musiker-Bruder und natürlich viele Ruhrgebietsfreunde. Die Weitgereisten müssen in unserer Wohnung in der Weststadt übernachten, denn Schlafstätten bietet das Haus noch nicht. Als wir in den ersten Stunden des neuen Jahres versuchen, an Taxis zu kommen, erweist sich das natürlich als Flop. Wir überbrücken die Wartezeit mit Bleigießen über dem Fonduerechaud. Mit einem Mal schießt eine Stichflamme hoch, dann explodiert das Rechaud. Ohne Rücksicht auf Verluste wird der Brand mit jedem greifbaren Mantel gelöscht, doch Rick, der am nächsten saß, hat üble Brandverletzungen. An einen Rettungswagen kommt man schneller als an ein Taxi und ich fahre mit ins Klinikum Nord. Ich habe Rick versprochen, nicht eher zu gehen, bis ich weiß, dass er gut versorgt ist. Also sitze ich stundenlang im Wartesaal unter jenen, die auf ihre Behandlung warten könnnen. Siehe da: Feuerwerksverletzungen sind gar nicht die häufigsten. Platz Eins belegen die Messerstechereien, wahlweise auch Glasscherbenverletzungen, wenn gerade kein Messer zur Hand war.
Ich darf noch kurz zu Rick auf die Brand-Intensivstation: er wird ein paar Tage dort bleiben müssen. Beim Portier wird mir sofort klar, dass ich mich als 40. oder 50. in der Schlange für ein Taxi anstellen kann. Also mache ich mich auf eine lange Fußwanderung gefasst, treffe aber alsbald auf ein Taxi.
Ich kann nicht gleich schlafen gehen, als ich im überfüllten Zuhause ankomme. Setze mich mit einer lieben Freundin in die Küche, leere eine halbe Grappaflasche und denke laut über das schlechte Omen für unser neues Haus nach. Ihren Vorschlag, nicht den Unfall sondern das Taxi, das mich nach Hause brachte, als Omen zu werten, nehme ich gern an: Schwierigkeiten, die überwindbar sind. Die anderen mussten nämlich zu Fuß gehen.

21. 3. 1996
Ich habe Hamburg an den Nagel gehängt, bzw. Hamburg hat mich an den Nagel gehängt. Aus der Traum von der Zusammenarbeit zweier Galerien, was für die Künstler eine feine Sache gewesen wäre. „Ich bin wieder hier!“ rufe ich laut, als ich aus dem Zug steige.
Doch die schlechte Nachricht wartet bereits: die Sparkasse verlangt eine Bürgin für den Hauskredit. Davon war zuvor nie die Rede. Aus dem Kaufvertrag kommt Hartmut nicht mehr raus und wenn wir die Sparkasse auf ihre Zusage verklagen, gehen die bis in die letzte Instanz. Sagt ein Rechtsanwalt und fügt hinzu: „Bis dahin seid ihr pleite.“ Dass ich Freiberuflerin ohne Auftrag bin, juckt die Bank nicht im Mindesten. Die ließen vermutlich auch eine mittellose Hausfrau bürgen.
Dafür haben wir unseren ersten Mieter gefunden: im Keller unter der Galerie wird ein Bürgerfunk-Radiostudio einziehen. Großartig, denn diese Bürgerfunkgruppe sendete bereits im Winter mein Nordstadttagebuch 93/94. Ich bekam sogar Fan-Anrufe.

2. 5. 1996
Hartmut und der Bürgerfunker renovieren täglich von morgens bis abends. Als sie feststellen, dass mit den Abwasserrohren im Keller was nicht stimmt, stößt Allroundhandwerker Jürgen zu uns. Ich habe derweil einen Job als Nachttankwärterin angenommen, muss also bis in den frühen Nachmittag schlafen. Immer, wenn ich arbeitswillig zu den Herren stoße, sind sie gerade auf dem Weg in die Pommesbude. Die auf der Münsterstraße ist gut für Currywurst und Schaschlik, der Alex-Grill auf der Nordstraße bietet neben seinem Taxiteller auch Gyros an. Beide haben Nordstadtpreise, doch auch die reißen auf die Dauer ein Loch ins kleine Budget. An meinen freien Tagen rücke ich also mit Kartoffel- oder Nudelsalat an – bis ich merke, dass die Herren der Pommesbude nur fernbleiben, wenn ich für das Essen sorge.
Im Nachbarhaus liefern sich ein Fliesendesigner und eine Suffkopptruppe eine musikalische Schlacht: Bolero gegen Schlager, die ein weiterer Nachbar „Nazi-Mucke“ nennt. Das ist Johannes, der abends gern auf ein Feierabendbier kommt und auch den Verwalter des Nachbarhauses mitbringt. Wir erfahren, dass die Suffskis es schon fertig brachten, einer betrunkenen Frau ein Hakenkreuz auf den Kopf zu rasieren. „Warum haben Sie an die vermietet?“ will ich wissen. Ihre Berufung ist mir nämlich auf den ersten Blick klar. Ha, der Hauptakteur trug eine Schreibmaschine unter’m Arm und gab sich als Schriftsteller aus.
(Nachtrag: viele Jahre später erfahre ich, dass es wirklich Nordstadt-Gedichte vom nunmehr verstorbenen Asbach-Siggi gibt.)
Johannes war in einem früheren Leben mal Offizier und schafft es, der Suffbande mit Befehlsgebrüll Einhalt zu gebieten. Der Fliesendesigner bietet dankbar ein Wunschkonzert an. Mein Wunsch: Stille. Denn beim Renovieren muss so oft die Flex eingesetzt werden, dass ich diesen Wunsch mit vielen Nachbarn teile.

11. 8. 1996
Der zukünftige Galerieraum ist leer und dank der Forderung unserer Kunstversicherung an allen Fenstern mit Gittern versehen. 20 cm Abstand, damit kein Kopf hindurchpasst. (Nachtrag: als wir später die Versicherung wechseln und ich den Herrn von der neuen stolz darauf hinweise, lacht er mich aus: „Wollen Sie in diesem Stadtteil etwa Picasso ausstellen?“)
Ich lade endlich alle unsere Mieterinnen und Mieter zu Kaffee und Kuchen, will wissen, ob irgendwo der Schuh drückt, ob sie Wünsche haben. Wir haben eine nette Studentin für die kleine düstere Wohnung gefunden und sie ist als Erste da. Nach und nach trudeln die anderen ein und mir wird klar, dass ich statt Möhrenkuchen zu backen besser eine Kiste Bier hätte kaufen sollen. Kaum habe ich uns vorgestellt, bricht lautstark die Hölle los:
Wenn die Jugos kochen, stinkt es. Die Studentin soll mal Flurputzen lernen. Der da hat meinen Keller, der soll da raus. Wehe, wenn ihr das Ladenlokal an Muchels vermietet.
Die lautesten sind dabei die deutschen Mietparteien – wer hätte das gedacht? – die sich so schnell in rote Köpfe und geschwollene Halsadern schreien, dass ich eine Schlägerei befürchte. Ich bin stimmgewaltig, kann mich aber nicht durchsetzen. Bis Hartmut mit einem Hammer auf den Tisch donnert und knapp verkündet, was er beizutragen hat.
1. Der Hinterhof gehört zur Galerie und darf von den Mietern nur für den Weg zur Mülltonne durchquert werden.
2. Wer sich über Geruch oder Dreck beschweren möchte, kann das schriftlich tun.
3. Keine Tierhaltung.
Drittens hätte er mal besser nicht gesagt. Mieterin Hilde aus der obersten Etage hat nicht nur einen Hund, sondern einen halben Zoo aus Federvieh, Karnickeln, Fischen und Katzen. Und sie ist die mit der schrillsten Stimme, die leise Tonlagen gar nicht kennt. Vor allem aber ist sie durchsetzungsfähig. Es bleibt bei Punkt Eins und es ist kein schönes Gefühl, auf die Mietzahlungen dieser Bande angewiesen zu sein. Als wir abends nach Hause fahren, haben wir noch die Auflage eines Flexverbotes nach 20 Uhr im Gepäck. Ich prüme mir meinen Möhrenkuchen rein, bis ich endlich über meine Naivität lachen kann. Wir haben schließlich eine Nordstadthütte gekauft.

7. 9. 1996
Das Ladenlokal zu vermieten hatte ich mir vergnüglicher vorgestellt. Hartmut hat mir den Zahn, darin selbst ein kleines Café zu eröffnen, mal gleich gezogen: die Umnutzungsgenehmigung für die frühere Glasereiwerkstatt zur Galerie habe ihn genug Nerven gekostet und außerdem brauchen wir Mieteinnahmen, um den Kredit zu bedienen. Zur Bekräftigung hat er den Durchgang fix zugemauert.
Also ward eine Zeitungsannonce geschaltet und ich bewache nun den 3. Samstag das Telefon. Sämtliche Anrufer der ersten Tage vermittelten mir in gebrochenem Deutsch, dass sie eine türkische Teestube eröffnen wollen. Zu meinem Glück hat Babs aus Gelsenkirchen dieses Vergnügen schon gehabt. Sonst hätte ich mir glatt was Orientalisches mit arabesken Kacheln und Teppichen ausgemalt. Um dann von der Realität erschlagen zu werden: Folien vor den Fenstern, damit die unerwünschten Frauen ihre Kerls nicht beim Saufen und Zocken erwischen. Nee, danke, kein Männerclub in meiner Hütte.
Ich bin misstrauisch, als sich wieder einer mit Akzent meldet. Er ist Portugiese und sucht Redaktionsräume für eine Kulturzeitschrift. Er bringt zur Besichtigung sogar ein paar Ausgaben mit und wir sind hell entzückt. Trotzdem muss ich noch fragen, ob die Redaktion auch weibliche Mitglieder hat. Kaum habe ich das ausgesprochen, fallen mir Luise F. Puschs Sprachglossen ein: weibliche Mit-Glieder? Ich kriege Luises Mitklits jetzt nicht übersetzt, erfahre aber, dass es Elena und Cristina gibt. Klar kriegen die den Vertrag sofort und auch einen Nachlass für zwei Renovierungsmonate.
Es gibt nicht viele Geschäfte in unserer Straße, dafür aber besondere: das Malergeschäft, dessen Inhaber uns grinsend die allerbeste Wandfarbe empfiehlt und sich wundert, dass Künstler sowas nicht wissen. Gegenüber ist Roswithas Blumenladen, wo ich Gerbera ohne Drahtstengel bekomme und darüber belehrt werde, dass Draht nur nötig ist, wenn die Blumen zu schnell gezogen wurden. Solche Ware verkauft sie nicht. Nebenan führt der Verwalter, der sich von Schreibmaschinen täuschen ließ, ein Bekleidungsgeschäft, wie ich es zuletzt als Kind gesehen habe: Altdamen-Strickpullis in der Auslage, Miederwaren in den Regalen. Das O’Nosso-Café an der Ecke ist die Stammkneipe unserer Portugiesen und an der anderen Ecke hat Sinan das roots, eine Studie-Kneipe mit ab und zu Life-Musik. In den 70ern hieß es noch Haus Alting, das wir aufsuchten, wenn wir einzelne Schulstunden schwänzten. Leider wurde die schöne alte Holz-Kneipeneinrichtung durch Sperrmüllsessel ersetzt. Bin ich schon alt genug, über „die Jugend von heute“ zu meckern?
(Kommentar beim Abtippen: von all‘ diesen Geschäften hat einzig das O’Nosso-Café überlebt.)

15. 11. 1996
Galerie-Eröffnung! Heute Abend! Die Presse ist super, alle drei Dortmunder Zeitungen haben große Artikel drin. „Kunst, die man nicht sieht – wie soll das weitergehen?“ witzelt die Rundschau. Denn der „Kunstprofessor“ Timm Ulrichs hat sich das Vergnügen erlaubt, Gegenstände in die Wand einzumauern und uns den heiligen Schwur abgenommen, nicht zu verraten, worum es sich handelt. Man kann im Keller unter dem Ausstellungsraum einzig zwei Schildchen „Kunstwerk I und II“ bewundern. Mein Liebling ist Mark Formaneks „Zweig, mit dem ein Hummelleben gerettet wurde“, in einer hübschen kleinen Vitrine.
Es gilt, noch zu putzen, meine Freundin Emine vom Bahnhof abzuholen und in den Getränkeausschank einzuweisen, die KünstlerInnen zu beköstigen, die Schreibtische im Galeriebüro von unendlichem Schreibkram zu befreien. Es ist schon dunkel, als Jürgen angerannt kommt: wir haben vergessen, die Klotür auf das passende Maß zuzuschneiden. Monatelang lebten wir mit einem Vorhang – man gewöhnt sich an alles. Das Ding ist aus brandsicherem Stahl und Hartmut schon nach Hause gefahren, um den Arbeitsoverall gegen was Schickes einzutauschen. Die Nachbarn werden die Krise kriegen oder die Polizei rufen, wenn sie schon wieder die Flex hören. „Abflexen und anbraten“ sind Jürgens und Hartmuts geflügelte Worte geworden und da Jürgen meinem Männe alle diese Techniken vermittelt, ist er Mitglied des Galerieteams geworden. Hilft nix! Wir brauchen ein Klo mit Tür. Endlich kommt Hartmut in Schlips und Sacko, die werden das schon hinkriegen.
Ich springe ins Auto um zu Hause zu duschen, meine Rede zu überfliegen und wieder zurück zu fahren. Wäre das schön, im Galeriehaus zu wohnen! Aber es ist voll belegt und wir wollen niemanden an die Luft setzen. Ob die Mieter kommen werden? Eingeladen sind sie alle, denn ich fürchte mich mittlerweile vor gar nichts mehr.
Ich muss drei Mal um den Block kurven, bis ich weit weit entfernt einen Parkplatz finde. Spielt der BVB etwa auf dem Merkur-Sportplatz? Nein, es ist unsere Eröffnung, die das verursacht. Pickepackevoll ist der Laden und die Inhaberinnen der Nachbargeschäfte kommen mit riesigen Blumensträußen: auf gute Nachbarschaft und euren Erfolg.

4. 2. 1997
Galeriebesuch von Roland, der um die Ecke wohnt. Er wolle mal sehen, wie die Yuppisierung der Nordstadt fortschreitet. Dafür kriegt er kein Glas zur Bierflasche, aber die Frage, ob ich mich jetzt Yuppheidi nennen darf – so als Nordstadtgaleristin. Außerdem bin ich gar nicht die Erste. In der Bergmannstraße hängt an einem Haus ein Schild von anno Tuck: „Galerie Helene Storath“. Es muss also vor Jahrzehnten schon mal eine dieses Wagnis eingegangen sein. Als ich um 17 Uhr schließen muss, damit ich um 18 Uhr pünktlich meinen Dienst als Nachttankwärterin antreten kann, ist Roland überzeugt: hat sich was mit Yuppisierung. Er wird wiederkommen, denn ihn freut Kunst in der Nachbarschaft.

Galerie Helene Storath, Bergmannstraße 3

8. 5. 1997
Wir brauchen unbedingt etwas anderes als das schwere Rolltor vor dem Galerieeingang. Denn kaum ist es oben, meint irgendein Suffski, er könne in unseren Hof pinkeln. Die stört es nicht mal, wenn ich ein Riesengezeter starte. Jürgen, der gelernter Bergwerkschlosser ist, entwirft ein neues Tor. Er träumte als Junge davon, technischer Zeichner zu werden. So, wie mein Vater davon träumte, Buchhändler zu werden, aber als Bergmannssohn den Beruf des Schweißers ergreifen musste. Er findet die Kunst, die wir ausstellen, zwar hochgradig verrückt – das kommt davon, wenn man die Tochter studieren lässt – aber er verspricht, das neue Tor zu schweißen.

15. 7. 1997
Gerade war die wilde Hilde da: bei ihnen fallen die Kacheln von der Badezimmerwand. Letzte Woche ist bei der jugoslawischen Familie die Heißwassertherme undicht gewesen. Ich fürchte mich vor dem Winter, denn alle Etagen-Thermen im Haus sind nicht mehr die Jüngsten und die Handwerkerrechnungen reißen ein tierisches Loch ins kaum noch vorhandene Haus-Budget. Ach ja, und bei der Studentin beschlägt in einer Tour das Fenster und zwar zwischen den Doppelglasscheiben.
Bei der Mieterauswahl haben wir auch ins Klo gegriffen: der junge Mann, der die zweite kleine Wohnung nahm, bestach durch die Bar-Vorauszahlung zweier Monatsmieten. Dabei blieb es und nach zwei Monaten ward er nicht mehr gesehen.

1. 1. 1998
Nun hat auch noch Meister Stinkstiefel gekündigt. Er war tödlich beleidigt, weil die Studentin ihm vor ihrem Geburtstagsfest Pralinen und Oropax überreichte. Tobend stand er im Galeriebüro: er lasse sich doch nicht verarschen von „so einer, die auf meine Steuern lebt“ (ich bin entzückt, diesen Klassiker mal wieder zu hören, unterlasse es aber, ihn auf die Tabak- und Alkoholsteuer zu verweisen). Die Studentin ist ansonsten mehr als leise und wenn sie einmal im Jahr feiern wolle, dürfe sie das, erklärte ich ihm. „Ich ruf die Bullerei!“ brüllte er, bis ich ihn an die Luft setzte. Nun liegt die Quittung vor mir: er zieht aus. Damit haben wir dann zwei leere Wohnungen nebeneinander.

1. 4. 1998
Wir ziehen um. Aus den zwei leeren Wohnungen soll eine große für uns werden. Da wir uns Doppelmietzahlungen nicht leisten können, wird es ein fliegender Wechsel mit Meister Stinkstiefel. Na ja, fliegen kann man nicht wirklich sagen: denn der von Freund Manni ausgeliehene Anhänger ist so klein, dass Hartmut damit ungezählte Male hin und her fahren muss bis die kleine Wohnung des Mietnomaden von Kisten und Möbeln so vollsteht, dass ich keinen Fuß mehr reinkriege. Es stehen immer noch einige Möbel im Einfahrttunnel und ich weiß nicht mehr, wen ich noch bitten kann, beim Tragen zu helfen. Wie gut, dass es das schwere Rolltor immer noch gibt, sonst würde das hier zum Selbstbedienungsladen.

5. 6. 1998
Ich weiß auch nicht, wieso Leute, die ins eigene Haus ziehen, gleich auf die Idee kommen, den Grundriss der Wohnung zu verändern. Muss aber sein, damit eine schöne große Wanne ins Bad passt. So leben wir schon seit Monaten im Staub abgeschlagener Fliesen, durchbrochener Wände, neu zu verlegender Kabel und Rohre. Heute Abend ist mal wieder Ausstellungseröffnung und ich kann nur hoffen, dass mir bei der Rede keine Putzstückchen aus den Haaren fallen. Letzte Nacht suchte ich die Tankstelle verzweifelt nach einem Nagelreiniger ab, weil niemand seine Bierbüchse von der Frau mit den schwarzen Fingernägeln kaufen will.
Meine Bücher sind immer noch in Kisten und einen Kabelanschluss für’s Fernsehen haben wir nicht. Also suche ich regelmäßig die gute alte Videothek auf. Der Papagei ist längst ausgeflogen, doch es gibt den iranischen Videothekar, der ein echter Filmfreak ist. Er empfiehlt mir seine besten Stücke und besteht darauf, sie nach Ansicht mit ihm zu diskutieren. Bin gespannt, ob er heute Abend wirklich zur Eröffnung kommt. Ich weigere mich, solche Veranstaltungen Vernissage zu nennen, dank solcher Affereien verkaufe ich in der Nordstadt auch nicht mehr Kunst.

20. 12. 1998
Heute gab es wieder meine Lieblingsveranstaltung in der Galerie: „Letzter Punsch vor Weihnachten.“ Ich setze um Drei Äpfelweinpunsch auf und es ist mir völlig egal, ob viele oder wenige Gäste kommen. Der Tag ohne Anspruch, ohne Rede, aber mit Keksen. Und es läuft so fein wie in den letzten Jahren: die Leute kommen einzeln, die eine gibt dem anderen die Klinke in die Hand und ich habe Gelegenheit, auch mal längere Gespräche zu führen.
Auch die neuen Mieter aus der Ersten sind dabei. Angelika ist Sozialarbeiterin und Fred will seinen Fliesenlegemeister machen. Sie wohnen nun seit dem Sommer bei uns und Angelika fragt mich, wie ich die Nordstadt aushalte. Wieso? Wo liegt das Problem? Sie erzählt, dass sie nur von der Haustür bis zur Straßenbahnhaltestelle, also ca. 500 Meter weit laufen muss, um mindestens drei Mal von irgendwelchen Typen blöde angemacht zu werden. Ficki-ficki und solche Sachen. Das verleide ihr die wunderbare große Wohnung sehr. Seltsam, mir passiert das überhaupt nicht. Ich fühle mich hier zuhause und bewege mich nach Luisa Francias Motto: wo ich meinen Arsch hinsetze, da ist mein Königreich. Vielleicht liegt es daran?
Ein Kunststudent meint, dass es daran liegen könne, dass Angelika sich nicht zur Nordstadt zugehörig fühlt. Dass man ihr von weitem ansehe, dass sie sich als etwas Besseres fühle. Holla, da hat er aber die Falsche provoziert. Sie fühle sich als Frau und nicht als etwas Besseres, donnert ihm Angelika entgegen. Das meine er nicht, sagt der Student und fordert uns alle auf, ehrlich mit uns selbst zu sein: fühlen wir uns nicht alle als etwas Besseres? Wir sind Künstler und Kunstfreundinnen, damit haben wir den meisten Nordstadtbewohnerinnen doch etwas voraus. Ich könnte ihn würgen, merke aber, dass er einen Stachel in mein Fleisch gesetzt hat.
Angelika und Fred haben uns in Sachen Renovierung in kürzester Zeit überholt. Sie haben neue Böden verlegt, den Kamin der ehemaligen Besitzerwohnung von Marke Jäger auf gemütlich umgestaltet und sogar das Bad neu gefliest.
Ich hingegen muss Robbert, der bei uns übernachtet (jaa, ja, der Äpfelpunsch!) erstmal zeigen, wie er den Weg durch die Kisten zur winzigen Dusche findet, die beizeiten Balkon werden soll.

1. 3. 1999
Mittlerweile hat uns auch die portugiesische Redaktion verlassen. Es wurde nie ein warmer, freundlicher Kontakt. So oft ich sie auf ein Bier oder einen Wein in den Hof einlud, sagten sie ab. Das Haus ist jetzt eher nordstadtlike: ins Ladenlokal ist ein libanesischer Gemüsehändler eingezogen. Den Vertrag machte Hartmut mit seiner schwarz-verschleierten Tochter, die fließendes Deutsch spricht. Den Laden aber betreiben zwei alte Leutchen: die Frau trägt lieber eine Strick-Schlingenmütze als ein Kopftuch und Öppes haut sich gern mal heimlich einen Flachmann rein. Den er ausgerechnet im Kinderwagen der wilden Hilde fix entsorgt, sobald die Tochter in Sicht ist. Klar, dass das Ärger gibt, nicht zu knapp und nicht zu leise.
Seit Hartmut mit ihm ein ernstes Vermieterwörtchen gesprochen hat, kriegen wir Deputat-Futti. Immer wieder mal bringt er eine Platte voller libanesischer Köstlichkeiten zu uns hoch, denn er war früher Koch und würde gern einen Imbiss zum Gemüsehandel hinzunehmen.

9. 6. 1999
Für unser Hochzeitsfest will ich beim Italiener auf der Münsterstraße Wein bestellen. Da es eine riesige Menge ist, frage ich nach einem Preisnachlass. Der Mann stöhnt auf: er müsse für den Laden eine aberwitzige Miete zahlen, doch mittlerweile versuchen alle Kunden zu handeln wie beim Bazar. Seine Preise sind scharf kalkuliert, weil er in der Nordstadt nicht mehr nehmen kann. Deshalb werde er in Kürze dicht machen und ins Kreuzviertel umziehen. Mit guter Ware zu vernünftigen Preisen kann man in der Nordstadt nur pleite gehen, sagt er.

16. – 20. August 1999
In der Galerie findet die Langzeitperformance von Matthias Jackisch aus Dresden und Elvira Santamaria aus Mexiko statt. Matthias und ich sind seit langem befreundet und die zwei wohnen bei uns. Um ins Schlafzimmer zu gelangen, müssen sie über den frisch gegossenen schwimmenden Estrich in der Küche springen und Hartmut meint, die Teerpappe auf dem Galeriedach ausgerechnet in dieser Woche erneuern zu müssen. Da ich sowieso die einzige bin, die der Performance täglich eine Stunde beiwohnt, sind wir drei mit dem lauten Schweißgeräusch unter uns.
Matthias ist begeistert von der Nordstadt: zuerst hat er bei Yörük Obasi die Simmits entdeckt und bedauert, davon nicht eine ganze Wagenladung nach Dresden schaffen zu können. Dann war er mit Elvira auf dem Nordmarkt und erzählte, dass er sich wie in einem anderen Land fühlte. In Dresden seien viele zwar so ausländerfeindlich wie nur was, aber Kenntnis vom Leben mit vielen Menschen aus anderen Ländern habe er erst hier erhalten. Elvira spricht kaum Deutsch, hat aber riesiges Interesse, ein Performanceprojekt mit Schulkindern zu machen. Ich spreche mit einer Bekannten, die an der Kleine-Kiel-Straßen-Schule unterrichtet. Kein Problem, sagt sie, unsere Grundschul-Kinder können die Sprache auch noch nicht. Sie verständigen sich mit Händen und Füßen und lernen dabei. (Nachtrag: als später genau diese Schule als eine der besten Dortmunds einen Preis erhält, wollen die Familien aus anderen Stadtteilen ihre Kinder dort anmelden. Ts ts ts!)

Am letzten Abend koche ich Jambalaya für alle Gäste. Zur Schlussperformance wurde es doch noch voll. Der alte Kran aus Glasereizeiten kam erstmalig zum Einsatz, um den großen Sommerstein, der in der Woche behauen wurde, durch den Raum zu schwenken. Herzigerweise gab Matthias‘ Hund Jim dazu den passenden Gesang.
Jim war es auch, der mir in dieser Woche Kontakt zur wilden Hilde vermittelte. Sie ist eine wirkliche Tiernärrin und fragte allabendlich, ob sie Jim mit auf ihre Runde nehmen könne. Aus ihrem einen Hund aus Anfangszeiten sind mittlerweile zwei geworden. Nicht einmal Hundefeind Hartmut brachte es über’s Herz, ihr die Aufnahme der Omma genannten Uralttöle ihres gestorbenen Vaters zu verweigern. So saß Hilde denn des öfteren bei uns, trank gern ein Bierchen mit und stellte sich als offenherzige lustige Person raus. Wir fielen fast vom Stuhl vor Lachen, als sie erzählte, wie sie nach allerlei Schreierei ihrem Mann eins auf die Nase gab, der Stinkstiefel-Nachbar die Polizei rief und die den Geschlagenen mitnahmen. „Dafür, dass ich das war, hatten die kein Formular.“

13. 12. 1999
Das ist wohl nicht gerade mein Glückstag heute. Seit Juli arbeite ich nicht mehr an der Tankstelle, aber seit September als Fotografin für Neugeborene in diversen Krankenhäusern. Nicht, dass ich das je gelernt hätte oder auch nur gut kann. Aber eine Chemnitzer Firma suchte Frauen, die das im Rührgebiet machen und ich brauchte unbedingt einen neuen Job. Die Galerie verkauft vielleicht einmal im Jahr ein Kunstwerk und die Babyknipserei wird bestens bezahlt. Ich komme also von meiner Oberhausen-Mülheim-Castrop-Tour und treffe in der Wohnung auf Jenin, einen Palästinenser, der im Sommer über die Studentenvermittlung zu uns stieß. Als Handwerker, weil Hartmut mittlerweile lieber außer Haus handwerkert und so Geld reinbringt. Unser Finanzgebaren ist skurril, aber äußerst notwendig. Jenin und ein Kollege brechen im Bad die Bodenfliesen raus, was Staub ohne Ende verursacht. Ich biete ihnen ein Bier an, was sie ablehnen. Jenin nimmt mich beiseite. Ich soll seinem Kollegen bloß nicht sagen, dass er sonst gern ein Bier mittrinkt, der ist gläubiger Moslem. Also gut, ich biete ein Wasser an. Auch das wird abgelehnt, weil Ramadan ist.
Ich sehe, wie die beiden sich in Schwerstarbeit ergehen, einander vor lauter Staub kaum sehen können und realisiere, dass sie weder essen noch trinken. Nee, Jungs, nicht mit mir. Als Auftraggeberin habe ich Sorgfaltspflicht. „Wer jetzt kein Wasser trinkt, kann gehen“, verkünde ich. Den Kollegen macht der Rausschmiss durch eine Frau völlig fassungslos. Er schmeißt wütend das Werkzeug hin und zieht ab. Jenin grinst und bittet mich um ein Bier.
Hartmut findet mich ebenfalls zimperlich, als er nach Hause kommt. Doch er hält sich damit nicht lange auf, denn es gibt große Neuigkeiten. Es war jemand da, dem die Galerieräume so gut gefielen, dass er sie gleich mieten wollte für einen Jazz-Plattenladen. Wie bitte? Da kommt ein hergelaufener Yuppie, der nicht mal fragt, wie die Galerie denn läuft und du willst sie aufgeben? Wofür, wenn nicht für die Galerie, tue ich mir den ganzen Wahnsinn hier eigentlich an?

1. 1. 2000
Silvester 2000, erst im Künstlerhaus, dann auf der Hafenbrücke, von der man das Feuerwerk über der ganzen Stadt wunderbar sehen und filmen konnte. Die Künstlerhaus-Leute wollen den Film hinterher sogar verkaufen – auch eine Maßnahme, um an Geld zu kommen. Das Thema des Jahres wird nämlich Kooperation. Wenn die Galerie nicht sterben soll, müssen neue Möglichkeiten her. Wir verabreden gemeinsame Ausstellungseröffnungstermine, an denen ein Shuttle-Bus (den die holländische Künstlerin Hendri Schüttelbüs spricht) die Gäste herumfährt.

1. 2. 2000
Die erste richtige Kooperation wird es mit ilvinolio, einem italienischen Spezialitätenladen von der Kaiserstraße geben. Also auf nach Mailand, KünstlerInnen auswählen. Das wird die erste Reise seit 1994! Ich freue mich wie eine Schneekönigin und erinnere mich an den Spruch einer selbständigen Fotografin: entweder hast du kein Geld für Urlaub oder du hast Geld, aber vor lauter Aufträgen keine Zeit. Der zweite Teil trifft auf uns jetzt nicht zu, aber klingt doch gut.

15. 8. 2000
Ich sitze mit einer Freundin im Hof, als die wilde Hilde über uns hereinbricht. „Wir haben Kakerlaken!“ lautet der Schreckensschrei. Als sie vorhin mit ihrem Gatten ein schnelles Nümmerchen auf der Waschmaschine geschoben habe – sie empfiehlt den Schleudergang – habe sie eine Kakerlake gesehen. Die soll sich später als Kellerassel erweisen, doch meine Freundin ist hin und weg. Sie nennt die wilde Hilde eine Frau, die über dich kommt wie eine Naturkatastrophe. Da kannst du nix gegen machen.

16. 9. 2000
Der Besitzer des ilvinolio brachte es sogar fertig, den italienischen Konsul zur Ausstellungseröffnung unserer „Linsenprodukte aus Italien“ (alle Arbeiten haben mit Fotografie zu tun) zu kriegen. Der kommt mit Gattin und die im Abendkleid. Sie fühlt sich so overdressed in der Nordstadt, dass die beiden schnell das Weite suchen.
Für heute ist die Feinkost-Kundschaft zu einem Drei-Gänge-Menü mit Linsen eingeladen. Wieso muss es ausgerechnet an diesem Tag plästern wie aus Eimern? Über den Hof rankt mittlerweile wilder Wein, es blüht der Oleander im Verein mit jeder Menge weiterer Kübelpflanzen, die ich hege und pflege. Wir müssen das Essen in den Durchfahrttunnel verlegen und alle schauen sehnsüchtig in den Hof. „Ach, es mutet so herrlich südlich an bei Ihnen.“ sagt eine Dame. So hätte sie sich die Nordstadt gar nicht vorgestellt. Ich bete, dass draußen gerade kein Suffski vor ihren Silbermercedes pinkelt. Durch das schöne neue Tor, dass Papa und Jürgen angefertigt haben, kann ich nur schauen, wenn ich aufstehe. „Aber sagen Sie mal: das ist doch Abenteuer, hier zu leben.“
Das Abenteuer findet viel mehr in meinem Portemonnaie statt, denn die einzige, die aus dieser Ausstellung kauft, bin ich selbst. Ein kleines Fischlein für meine Schwester zu Weihnachten.

24. 12. 2000
Die Würfel sind gefallen: energy-galerie ist Geschichte.

Ich habe etwas mehr als ein Jahr gebraucht für diese Entscheidung: kein Museum der Welt stellt eine Mittvierzigerin ohne Doktortitel ein und ich habe Angst, als Kunsthistorikerin unterzugehen ohne Galerie. Weshalb im Herbst wieder eine Kooperation stattfinden soll, mit Künstlerhaus und Kunstverein zum passenden Thema Perspektiven. Allerdings wird unser Ausstellungsteil in unserer Wohnung zu sehen sein. Ein guter Grund, sie endlich fertig zu kriegen. Seit 2 Jahren leben wir in einer Baustelle und ich erinnere mich gut an die Tränen meiner Schwiegermutter, als sie die staubige Bescherung sah.

13. 8. 2001
Heute durfte Hartmut selbst erfahren, was für ein Früchtchen er da als Mieter der Galerie ausgewählt hat. Ich hätte den deutsch-türkischen Nachhilfeverein bevorzugt, doch er wollte unbedingt den Designer. Der mich schon bekloppt machte, während Hartmut in Frankreich auf Montage war: ich solle meine Proll-Blumen aus dem Hof schaffen. Gemeint war meine von Muttern übernommene Liebe zu Petunien. Proll-Tochter, die ich bin, denke ich ja gar nicht daran, kläre ihn aber über den Begriff des Proletariers auf. Er kennt den, behauptet er, denn er sei Hochintelligenzler. Wie liebenswürdig, dass er sich das so selten anmerken lässt.
Heute gesteht er Hartmut, in dessen Abwesenheit einen nächtlichen Polizeieinsatz provoziert zu haben: da er hohen Besuch von wichtigen Architekten erwartete, erachtete er es für notwendig, die Büsche auf dem Mittelstreifen der Straße in eine ästhetisch wertvolle Form zu schneiden. Die völlig bescheuerten Nachbarn riefen die Polizei. „Na klar“, sage ich, „Du warst bekifft, besoffen und dazu bewaffnet.“ Wir nennen ihn fortan den Mittelstreifenbeauftragten.

11. 9. 2001
Im Bad gibt es nur eine Wanne, ein Klo und ein Waschbecken, keine Kacheln, Spiegel oder alles, was andere in Badezimmern haben. Ich hocke in der Wanne, Hartmut serviert mir Wein, wenn er sich mal kurz vom Fernseher lösen kann. Wenigstens habe ich nun einen besseren Grund zu heulen als gestern. Gestern erhielt ich die gefürchtete Diagnose: Bechterew. Der Mittelstreifenbeauftragte hielt es für angebracht, mir seinen Pschyrembel zu zeigen. Die Bechterew-Bilder waren so schaurig, dass mir nur noch „Schluss mit Sekt und tiefen Ausschnitten“ einfiel.
Seit Juli habe ich aberwitzige Schmerzen und zog von Facharzt zu Facharzt. Es brauchte meinen Feld-Wald-und-Wiesenarzt, der als einziger auf die Idee kam, dass Schmerzen im Unterleib von den Ileosakralgelenken ausgehen können. Da sage mir nochmal eine, die Ärzteversorgung in der Nordstadt sei unterirdisch. Der Mann ist nicht nur Allgemeinmediziner, sondern auch Chiropraktiker, Sportarzt und Naturheilkundler. Dafür, dass er seine Praxis nicht in den Süden verlegt hat, sollte ich ihn heilig sprechen lassen.
Telefonisch kein Durchkommen nach New York, wir wissen nicht, wie es Hartmuts Bruder geht. Dafür ruft die Schwiegermutter im 5-Minuten-Takt an und ich sitze in einem Bad, das aussieht, als habe eine Bombe eingeschlagen. Meinen Job als Babyfotografin kann ich knicken: die Kameraausrüstung ist schwerer als ein Baby und schleppen hat Herr Doktor verboten. Also versuche ich mich als professionelle E-Mailerin und erfahre nachts, dass Hartmuts Bruder, seine Frau und meine liebe Freundin Susan nicht in der Nähe des World-Trade-Centers waren. Eigentlich fehlt mir jetzt nur noch, dass Jenin erklärt, die Attentate habe der Mossad verübt.

28. 9. 2001
„Same procedure as…“
Eine Stunde vor der Ausstellungseröffnung tut Jürgen kund, dass die Badezimmertür noch auf das richtige Maß gesägt werden muss. Ich liege am Boden vor Lachen und bin froh, dass diesmal eine Holzsäge reicht. Die Idee mit der Wohnungsausstellung war super – wer weiß, ob die Wohnung sonst „schon“ fertig wäre. Das war ein Kraftaufwand vom Feinsten!

3. 12. 2001
Hartmut sagt, dass er in dieser Wohnung wahnsinnig wird. Über uns leben die wilde Hilde, ihr Mann und ihre zwei Kinder, von denen eines gerade laufen lernt. Habe ich ein déjà-vue? Nein, genau das habe ich mit ihm schon mal erlebt: Kindertrappeln macht ihn wahnsinnig. Ehe er ihnen die Miete so hoch setzt, dass sie ausziehen müssen, schlage ich vor, die Wohnungen zu tauschen. Selbst Hartmuts Bruder fragt mich, wie ich es aushalte, mir nach 3 Jahren in einer Baustelle die nächste zuzumuten. Ganz einfach: sie sind die einzigen Mieter, die pünktlich und regelmäßig zahlen, derweil ich arbeitslos bin und Hartmuts neuer Kleinhandwerksbetrieb auch nicht viel einspielt. Überdies ist ein ewig schief hängender Haussegen eine schlechte Ehegrundlage.

17. 1. 2002
Ich beschließe, gemeinsam mit der wilden Hilde sportlich zu werden. Alle Bechterew- und Rheuma-Bücher, die ich mir zu Gemüte führte, empfehlen, die Finger von tierischen Fetten und Alkohol zu lassen. Ich tue aber lieber was, statt etwas zu lassen und lande in Eisenhauers Muckibude. Eine Physiotherapeutin weist uns ein und wundert sich, als ich nicht wie Hilde unbedingt abnehmen will. Nun gut, die Zeiten, in denen Hartmut sagte „kein Gramm an dir möchte ich vermissen“ sind vorbei. Doch ich will mich bewegen und sie pflichtet mir bei: das beste gegen Bechterew, das ansonsten als nicht heilbar gilt. Ich kann nur den Verlauf aufhalten. Mit Hilde in die Sauna zu gehen ist puppenlustig: sie lernt alle Leute kennen und unterhält sofort den ganzen Verein. Bald sind wir gefürchtet: wenn die kommen, ist es aus mit der stillen Sauna.

9. 2. 2002
Wir sind zu Hildes Geburtstag in die Eckkneipe geladen. Die anderen Gäste sind absolut nicht unsere Kragenweite. Hartmut muss sogar mit mir tanzen, um mich vor einem wild gewordenen Kleingärtner zu retten. Das tut er keineswegs freiwillig. Aber ich lerne Biene kennen, eine Busfahrerin, die mir köstliche Geschichten erzählt. Wir unterhalten uns so gut, dass ich nicht mal mitkriege, wie Hartmut geht. Monika, die Wirtin, lacht mich an. „Du warst vor 4 oder 5 Jahren schon mal hier.“ Stimmt. Wir kamen von einer langen, überhitzten Autofahrt und nur diese Kneipe war noch offen. Ich fiel hinein und bestellte „das größte und kälteste Bier, das ihr habt, so schnell wie es geht.“ Toll, dass sie das behalten hat.

14. 2. 2002
Ich habe das erste Valentinsgeschenk meines Lebens bekommen: einen Scheidungsantrag. In der Kneipe gibt es wenigstens Biene, Monika und Hilde, die meinem Gejammer zuhören und ich habe es nicht weit, nach Hause in die neue Baustelle zu schwanken.

3. 3. 2002
Biene hat mich eingeladen, mit ihr wandern zu gehen. Das lenkt wunderbar von meinem Trennungs-Hin-und-Her ab und wir entdecken den Dortmund-Rundwanderweg, gekennzeichnet durch ein D im Kreis. Wir folgen ihm ein gutes Stück und nehmen dann den Bus zurück in die Nordstadt. Es ist prima, mit einer Frau unterwegs zu sein, die alle Busfahrpläne kennt. Beim Bierchen in unserer Kneipe verabreden wir, stückweise ganz Dortmund wandernd zu umrunden.

27. 4. 2002
Wirtin Monika ruft mich an: sie habe mir extra einen Sitzplatz für das Spiel freigehalten, ich möge meinen Hintern in die Kneipe bewegen. Spiel? Fußball fand bislang auf einem anderen Planeten statt. Aber alles ist besser, als Hartmuts Auszug aus der Baustelle beizuwohnen. Es ist schon ein Hit, dass er zusagte, aus seinem Haus auszuziehen und mir die große Wohnung zu überlassen. Meine Freundinnen finden das völlig irre von mir, doch ich habe schon Mann-weg, Job-weg hinter mir, Wohnung-weg brauche ich jetzt nicht auch noch. Soll er doch von meinem Gatten zu meinem Vermieter werden.
Also auf in die Kneipe. Da geht es hoch her, denn der BVB macht an diesem Tag die Meisterschaft klar. Da alle „Wir sind Meister“ grölen, erkundige ich mich, ob ich mich dann mit Fug und Recht Meisterin nennen darf. Als die Stadionbesucher zurückkehren, wird es richtig voll in der Kneipe und ich lerne Cäsar-den-mutigen-Hasen kennen, der ebenso wie ich im Trennungs-Schleuderprogramm ist. Er soll mein Sprungbrett raus aus der Heulerei werden.

Juni 2002-Oktober 2003
Mit Jürgens Hilfe wird aus der Baustelle eine WG-Wohnung. Ich schleife sogar den Holzfußboden ganz allein mit einer riesigen Maschine ab. Sieht aus wie See Genezareth bei leichtem Wellengang. Ich werde Stammgast in der Kneipe und Mitglied im Mieterschutzbund. Denn nur so ist mein Vermieter davon zu überzeugen, dass ein Bad fertige Installationen braucht und Löcher, durch die ich auf die Straße gucken kann, geschlossen werden müssen. Beim libanesischen Imbiss muss ich wieder zahlen, denn ich bin nicht mehr die Vermieterin, die Deputat-Futter kriegt. „Hat errr andere?“ fragt mich die alte Frau mit der Schlingenmütze. Der Einfachheit halber nicke ich und erfahre, dass es ihr nicht besser geht. Sie zeigt mir, was ich tun muss: den Mund verschließen und den Schlüssel wegwerfen. Auch der Mittelstreifenbeauftragte findet Wege, der Proll-Tochter endlich zu zeigen, wo der Hammer hängt. Ohne Hilde würde ich verrückt. Sie lädt mich immer zum ersten Kaffee mit anschließendem Bier. Die WG-Besetzung wechselt mehrfach und nur die beiden Musiker bleiben mir ihre Untermiete nicht so schuldig wie die Brokerin und die angehende Juristin.
Erst nach mehr als einem Jahr ist mir klar, dass ich dieses Haus verlassen muss. Ich finde eine kleine Dachwohnung in der Gronaustraße und stelle fest, dass ich es sehr gut aushalte, allein zu leben. Da ich Büroarbeit für einen Umzugsdienst mache, tragen mir die Jungs die Sachen schneller von der alten in die neue Wohnung als ich es je bei einem Umzug erlebt habe.
Ich muss an das Omen denken, das Silvester 95/96 für das Haus gestellt wurde: die Schwierigkeiten waren extrem und oft hitzig, doch am Ende kam ein „Taxi“, das mich rettete und zu mir brachte.