Astrid Petermeier

Neues aus dem Rührgebiet

Teil 1: 1993-94 – Ankunft im Norden

20. 2. 1993
Das war knapp, aber gut. Eine Woche bevor ich meine neue Stelle in Dortmund antrete, ist es Hartmut (alle Namen in diesem Tagebuch sind geändert!) gelungen, eine Wohnung zu finden. Nordstadt – das Urbanste, was Dortmund zu bieten hat. Hier wird man kaum von diesem grünen Geranke belästigt, doch vor den Geschäften gibt es noch Auslagen mit buntem Gemüse und auch die Nebenstraßen sind sonntags belebt. Herz, was begehrst du mehr?
Was Makler und Beziehungen nicht fertig brachten, schaffte Hartmut wie im Märchen: er schlug beim Frühstück die Zeitung auf, sah die Annonce, war um elf (!!!) der Erste, der besichtigte und hatte die Wohnung. Ein freundlicher Verwalter singt Lobgesänge auf den Norden, in dem er aufwuchs und sechzig wurde. Tausend Mark für 75 qm ist verglichen mit Wiesbadener Gepflogenheiten ein Spottpreis.

25. 2. 1993
Zwar war die Packerei in Wiesbaden die Hölle und die letzten Blumen passten absolut nicht mehr in den riesigen Transporter, doch dafür läuft in Dortmund alles wie geschmiert. Zehn meiner Studenten packen feste an und schon nach einer Stunde haben wir eine leere Wohnung in 60 qm Kistenlager, 4 qm Matrazenlager und 11 qm Stolperpfade verwandelt. Wir laden alle zum Essen beim Spanier auf der Bornstraße. Durch eine Toreinfahrt gelangt man in Hinterhof- und haus, erklimmt eine Treppe und könnte meinen, in einer Vorstadtkneipe Barcelonas gelandet zu sein. Der Fernseher läuft immer, es riecht nach Fisch, man präsentiert Fußballpokale an der Wand und erreicht eine Lautstärke wie in einer Markthalle morgens um Sieben. Und, was das Beste ist: selbst nach ausreichendem Weingenuss, der die Schrittfolge bestimmt, brauchen wir nur fünf Minuten nach Hause.

26. 2. 1993
Der Weingenuss bestimmt auch den heutigen Tag. Ach, wäre das doch alles nur ein Katertraum. Der Weg zum Bad geriert sich als Abenteuerwanderung. Derweil ich mit den Füßen im kalten Wasser gerade überlege, wie es um eine kalte Kürbisdusche bestellt sei, höre ich eine fremde Männerstimme im Flur schreien:

„Was ist denn hier los?“
In ein Handtuch gewickelt trete ich Arnold Schwarzenegger, Silvester Stallone und Dolly Dollar entgegen, die behaupten, noch bis zum 1.3. Mieter dieser Wohnung zu sein. Womit sie wohl recht haben. Die berufliche Tätigkeit unserer Vormieter ist mit einem Blick geklärt. Ohne Telefon lässt sich hingegen weniger leicht klären, ob der Verwalter a) befugt war, uns vorzeitig die Schlüssel auszuhändigen und b) warum er uns nicht davon unterrichtete, dass die Vormieter DM 3000,- für eine (schlampige) Renovierung verlangen. Eine Frau im Handtuch und ein Doktorand im Morgenrock haben gegen Arnie, Sly und Dolly schlechte Karten. Ihre Drohung, unsere Möbel und Gerätschaften auf dem Nordstadtpflaster zerschellen zu lassen, lässt uns unterschreiben, dass wir 2000 zahlen werden. Wenigstens haben wir sie runtergehandelt.
(Kommentar beim Abtippen 2020: das würde mir heute, nach 27 Jahren in der Nordstadt, nicht mehr passieren. Frau lernt dazu!)

1. 3. 1993
Erster Tag im Dortmunder Büro. Meine neuen Kollegen wohnen in Schwerte, der Aplerbecker Mark oder in Waltrop.
Nordstadt? Sie Ärmste. Naja, wenn man unter Zeitdruck sucht… Tausend Mark? Sind Sie verrückt? Das ist Wucher für diese Gegend!
Ich habe mir die Nordstadt ausgesucht, behaupte ich bissig. So ist wenigstens gleich am ersten Tag geklärt, dass die Neue nicht ganz dicht sein kann.

5. 3. 1993
Das überdimensionierte Benz-Cabrio parkt gleich neben dem Möbelwagen, mit dem unsere zweite Fuhre kam. Bei uns ist ein Freund, der körperlich was hermacht und einige Semester Jura studiert hat. Auch unsere Vormieter haben Verstärkung mitgebracht und ich würde von Damme und Willis sprechen, wäre ihr Akzent nicht so verdammt osteuropäisch. Sie werden als die nach ihrem Geld gierenden Renovierer vorgestellt. Die Verhandlung findet im Treppenhaus statt, damit die Nachbarn auch was davon haben und notfalls ein- oder aber zum Telefon greifen können. Kaum trage ich zuckersüß unsere Zahlungsverweigerung vor, wird es laut.
Unser juristischer Beistand schlägt Arnie und Co. vor, ihr Geld einzuklagen. Nach einigem Hin und Her in höchsten Dezibellern verdeutlicht Arnie, dass der Gang zum Rechtsanwalt noch nie zu seinen Gepflogenheiten gehörte. Abgang.
Es gilt, noch einen Möbelwagen auszupacken. Der ist derweil Anlass für eine Party geworden, deren Gästeschar aus Polizei, Abschleppwagenfahrern und ehrlich begeisterter Nachbarschaft besteht. Wir haben ihn schräg auf die Kreuzungsecke gestellt, damit er die schmale Missundestraße nicht blockiert. Das nehmen uns die Ordnungshüter natürlich übel. Pech, man hat einen zu kleinen Abschleppwagen gerufen und erwartet mit Spannung das größere Modell für Möbelwagen. Entkräftet frage ich unseren Juristen, ob ich das unter berufsbedingten Umzugskosten von der Steuer abziehen kann.

15. 3. 1993
Die Heizung tropft, das Badezimmerfenster klemmt und der Keller ist nicht feucht, sondern nass. Wir unterrichten den Verwalter.
Erfreulich: die Wohnung wird ans Telefonnetz angeschlossen. Telekom hat ein Herz für Frauen, die sich bedroht fühlen. Hartmut kann seine Beschützerrolle wieder gegen die des Wiesbadener Doktoranden eintauschen. Ich belohne die Telefongesellschaft mit einem abendlichen ausführlichen Rechnungpuschen. Dass man mich aus Dresden, Hamburg und New York bittet, lauter zu sprechen, wundert mich nicht weiter.

20. 3. 1993
Ich teste den Supermarkt am Nordmarkt. Das Angebot an Frischwaren lässt wenigstens keine Entscheidungsschwierigkeiten aufkommen. Die Verkäuferinnen bestechen durch eloquente Einsilbigkeit, die sich bei der Kassiererin zur Ruppigkeit steigert. Bei der Schlange könnten sie ruhig eine zweite und dritte Kasse besetzen, meint ein Mann mit zig Dosenbieren auf dem Arm. Ausreichend und dazu freundliches Personal stellt Coop an der Möllerbrücke ein, aber doch nicht im Norden. Vermutlich filtert man hier aus Mengen von Bewerberinnen die raus, deren schlechte Laune genetisch bedingt ist. Es verursacht ein geringfügig schlechtes Gewissen, mit einem Träger voll von edlen Clarissenbräu-Flaschen an einer Männergruppe vorbeizuschlendern, der es erst nach dem Genuss von vielen billigen Hansabieren gelingt, den Platz vor dem Supermarkt als Wohnzimmer zu empfingen. Nennt man das die immer weiter auseinanderklaffende Einkommensschere?

15. 4. 1993
Anruf bei Hartmut in Wiesbaden, der dort in seinem WG-Zimmerchen noch doktort.
„Wohin hast du die Rechnung für das Telefon gelegt, es ist nicht in Ordnung.“
„Was? Kannst du den Hörer mal in Richtung deines Mundes bewegen?“
„Ich verschlucke ihn gleich. Wo hast du…“
„Sprich lauter, ich verstehe dich nicht.“
„RECHNUNG! TELEFON! APPARAT!“
Komme mir vor wie in dem Witz mit dem klappernden Schutzblech. Wir haben die Rechnung nie wiedergefunden. Offenbar ist mein Bermudadreieck mit mir umgezogen.

22. 4. 1993
Freier Tag, Erkundungsspaziergang. Ich entdecke einen Markt mit Bazarqualitäten und erstehe Blumen, Knöpfe, Pizzaböden, Socken, Fisch, Zucchini und Damenfeinstrumpfhosen aus dem Sonderangebot. Weiterhin begeistere ich mich für das Haxenstübchen am Nordmarkt, wo eine ältere Frau ein strenges Regiment führt. Ihre Augen sind jedoch so dunkel umringt, dass ich mich frage, ob ihre Untergebenen Rache nehmen. Ich entdecke den Buchmacher an der Mallinckrodtstraße und die Tier-Feinkosthandlung auf der Münsterstraße, die mir die Frage stellt, was die verwöhnte Dogge von heute wohl bevorzugt. Den wunderbaren Tag beschließt ein Besuch im Gypsy, wo ich bass erstaunt unter einer Wandmalerei Platz nehme, die Ratten mit Sonnenbrillen darstellt. Morgen werde ich die Bücherei nach Bohemeliteratur aus der Nordstadt durchforsten – der Stadtteil bietet sich nur so an. (Das war ein Fehlschluss. Erst 24 Jahre später erschien mein Roman „Kunst gegen Kohle“.) Oh, fast hätte ich die kleine Kaschemme namens „Palette“ vergessen, in der gewiss keine verarmten Künstler verkehren.

29. 4. 1993
Ein hoffentlich letztes Aufbäumen des Winters lässt uns den Verwalter nochmals an die tropfende Heizung erinnern. Wir haben ihr vier Marmeladengläser geopfert.
Der Muezzin ruft nicht nur zum Suez hin, wie Georg Kreisler behauptet, sondern auch von der Moschee bei uns um die Ecke, ganz modern aus Lautsprechern. Und er rief auch eine Bürgerinitiative auf den Plan, der mein lieber Kollege sicherlich beitreten würde, zwänge man ihn in die Nordstadt.
„Im Urlaub ist Folklore ja ganz schön, aber hier wäre mir das zu laut.“
„Sind die christlichen Kirchenglocken etwa leiser? Die dröhnen sogar sonntags los, wenn unsereine gern ausschlafen möchte. Der Muezzin macht sich nur freitags bemerkbar.“
„Von mir aus kann der jeden Tag rumgrölen wie er will. Aber bitte in Indien.“
Jawoll, der Kandidat hat hundert Punkte.

14. 5. 1993
Gestern haben wir uns zum Kauf eines Luxustelefons mit integriertem Anrufbeantworter durchgerungen. Im Gegensatz zu seinem einseitigen Vorgänger funktioniert dieses von vornherein überhaupt nicht. Man tauscht es jedoch nicht um, sondern schickt es zur Reparatur ein. Ich bestehe auf Ersatz und bekomme einen abgehalfterten Apparat, der derart idiotisch kracht und knackt, dass ich den blauen erstgekauften wieder anschließe. So verstehe wenigstens ich die andere Seite.

25. 5. 1993
Es ist endlich warm geworden. Ich öffne die Küchenfenster und eine Flasche eiskalten Weißweins, lasse leise türkische Musik an mein Ohr dringen, schreibe Briefe und genieße den Feierabend. Der Verwalter kommt überraschend und befindet, dass die Heizung nicht tropft. Wie soll sie auch, wenn sie abgestellt ist? Beizeiten wird er das Badezimmerfenster richten.

1. 6. 1993
Habe eine großartige Videothek an der Mallinckrodtstraße gefunden. Wenn man zwischen Haudrauf- und Softsexfilmchen (Hardcore steht extra) lange genug sucht, gibt es jede Menge prima Filme. Zwar haben sie keine Klassikerecke wie in Wiesbaden, dafür aber einen Papagei. Das Federvieh flucht härter als jeder Seebär und kann pfeifen wie ein ausgewachsener Strandpapagallo. Sogar ein waschechtes „ksskss“ kriegt er hin, weshalb ich den Jungen hinter mir scharf anblitzte. Der gespielte Witz.

30. 6. 1993
Mein äußerst schätzenswerter Kollege nimmt die Berichterstattung über das Solinger Attentat zum Anlass, mich zu fragen, ob ich mich in der Nordstadt noch sicher fühle. Ihn gewisslich völlig falsch verstehend, starte ich durch zum Wutausbruch. Das muss so beeindruckend ausgesehen haben, dass er sich erklärt, bevor ich loslegen kann: Er hätte Angst, wohnte er in einem Haus mit einem türkischen Reisebüro. Ich verlege mich auf eine Predigt über Geschmacklosigkeit und Sensibilität.
Die türkischen Jugendlichen reagieren auf ihre Weise auf das Attentat: ich muss die Fenster nun nicht mehr öffnen, um die Musik aus ihren Autocassrecks zu hören. Kulturelle Offensive: ich könnte Bauchtanzkurse im Wohnzimmer abhalten und müsste nicht einmal in Musik investieren.

11. 7. 1993
Sonntagsspaziergang mit meiner Freundin Almuth und ihren Kindern. Der African Beauty Shop findet unser aller Interesse. Seine Schaufenstergestaltung lässt uns rätseln, ob wir es mit einem Rasta-Frisör, einem BVB-Devotionalienhandel oder dem autorisierten Michael-Jackson-Fanclub zu tun haben. Derweil wir noch sinnen und trachten, schreckt uns eine Dreiklanghupe auf und kaum, dass wir uns umgedreht haben, schallt uns aus vier Männerkehlen ein kräftiges „Ciao belle!“ entgegen. Kennnzeichen Napoli. Eines rudimentären Italienisch mächtig, rufe ich begeistert: „Ciao bello!“ zurück. Die Kinder halten prompt Ausschau nach Pudeln. Wir haben noch nicht ausdiskutiert, ob alle „bellos“ Pudel sind, da haben die Kinder die Werbung der großartigsten Nordstadt-Muckibude entdeckt: in reichlich verqueren Proportionen ist King Kong als Gewichtheber dargestellt.
„Vielleicht wollte der Künstler gar keinen Affen malen.“ wendet die Tochter beschwichtigend ein. Wen dann?
Mangels Balkon verbringen wir den Abend im Biergarten des Gypsy – was für eine Eröffnung! In den dicken Bäumen eines Hinterhofs schaukeln Lichterketten, es knirscht Kies unter den Schuhen, es gibt Radlermaß, Pizza und Saft. Ein guter Grund, Urlaubskarten zu schreiben, denn das Geld für einen solchen blieb bei meinen Vormietern.

20. 7. 1993
Mein Kollege erzählt von einem Besuch bei Freunden, die genauso arm dran sind wie ich: wohnen im Norden, Nähe Burgholzstraße. Auf dem Mäuerchen vor ihrer Haustür hocken die „Penner“ und pissen den Vorgartenhibiscus zu Tode. Als wahrer Freund und Helfer in der Not hat mein Kollege ihnen einen Eimer Wasser übergegossen. Ich frage ihn, ob das die vornehmen Aplerbecker Methoden sind.
Als ich ihn erstmalig zum Lustwandeln dorthin entführe, will Hartmut wissen, warum wir Fredenbaum auf der zweiten Silbe betonen. Fredenbaum klingt für mich wie Apfelmus. Ich bin in Dortmund geboren und glücklich, nach zwei Wiesbadener Jahren wieder zurück zu sein. Mag ja sein, dass die Hessen korrekt betonen, skurril ist ihr Dialekt trotzdem.

9. 8. 1993
Die Gemeinschaft Leerender billiger Bierbüchsen vor dem Supermarkt wächst in berauschender Geschwindigkeit. Nehmen Arbeitslosigkeit, Armut und Alkoholismus (für diese Alliteration bin ich nicht verantwortlich) so rasant Aufschwung? Im Supermarkt schimpft man schlimmer als das Zeug hält und kassiert für’s Bier. Die Aggression kennt keine Einsilbigkeit mehr. Deshalb verlege ich meine Einkäufe nun endgültig auf die kleinen Läden.
Nach einer geschönten Erzählung darüber gesteht mein Kollege, dass auch er einmal monatlich in die Nordstadt einfällt, um sich beim Italiener aus verschiedenen Sorten den besten Espresso mischen zu lassen.

1. 9. 1993
Der Kauf eines Faxgeräts kommt mir vor wie ein déjà-vue. Es funktioniert selbstredend nicht. Beim Versuch, es umzutauschen oder reparieren zu lassen, konnte ich nicht mal mit Sicherheit beantworten, ob unsere Leitung in Ordnung sei. Falls nicht, muss der Werkstattaufenthalt des Geräts bezahlt werden. Telekom hingegen stellt sich auf den Standpunkt, dass wir die Leitungsüberprüfung zahlen müssen, falls das Fax defekt sei. Qual der Wahl. Ich kann nur die Falsche treffen.
Der Abfluss in der Küche gibt merkwürdige Geräusche von sich. Er gurgelt. Hartmut tätigt wieder mal den beliebten Anruf beim Verwalter.

15. 9. 1993
Ich brauche eine Weile, um zu erkennen, dass das Mädel vor unserem Haus nicht auf ihren ersten Kuss wartet. Aus diesem zarten Alter ist sie gerade rausgewachsen. Ihre Ausstattung als Prostituierte ist einfach mies: beim Film ginge sie als Tochter der Frisöse gerade noch durch. Seit Mitte Juli regnet es und ihr ist nicht mal ein Schirm vergönnt. Was haben Luden gegen Regenschirme? Nach einer Weile beginne ich, sie zu grüßen. Doch sie antwortet nicht oder dreht sich weg.
Hartmut ist entsetzt: wenn es mir einfallen sollte, ihr einen wärmenden Pausentee anzubieten, würde er auf immer in Wiesbaden bleiben.

20. 9. 1993
Verwalter sind vielbeschäftigte Menschen. Der Abfluss ist nun komplett verstopft, ich spüle in der Badewanne und warte auf Godot. Ein Fritze von der Telekom kommt und stellt fest, dass unsere Telefonleitung keine Mängel aufweist. Außerdem ist ihm kalt. Wahrlich, auf Handprobe fühlt sich die Heizung gerade mal lau an, obwohl der Sommer ‘93 sich bereits Anfang August verabschiedet hat. Der Abfluss verströmt sein Odeur und der Herr von der Telekom wird von Mitleid ergriffen. Er erlässt mir die Unterschrift. Ich entlüfte die Heizung und rufe erneut den Verwalter an.

28. 9. 1993
Ein Rückfall in den Coop bringt es an den Tag: ich schlendere von West gen Ost über die Mallinckrodtstraße und bemerke den Mittagstisch für Arme. In Erwartung dessen, bzw. als Digestiv gönnt man sich vor dem Supermarkt das ein oder andere Döschen Hansapils in großer Gesellschaft. In anderen Vierteln der Stadt gehören Stehparties ebenso zum Standard. Besteht der Unterschied darin, dass die Drinks dort „Sidecar“ oder „Tequila Sunrise“ heißen und gern mit einer Olive verziert werden?

30. 9. 1993
Der Verwalter war da! Ich fasse es kaum. Da ich zugab, den Abfluss mal mit Rohrfrei behandelt zu haben, fühlt er sich ermutigt, mich anzuherrschen. Ich habe auf diese Weise die Verstopfung verursacht. Na großartig! Hauptsache, er lässt sie bald beseitigen. Den verstopften Abfluss anstaunen kann ich auch alleine.

5. 10. 1993
Endlich ist die Heizung ganz ausgefallen, pünktlich zum ersten verfrühten Nachtfrost. Hartmut versucht, dem Verwalter Beine zu machen.

8. 10. 1993
Ohne Erfolg. Zum leisen Summen eines kostenintensiven Heizlüfters zelebrieren wir ein Essen mit tief beeindrucktem Besuch aus der Schweiz. Ich habe längst raus, wie man auch große Geschirrmengen in einer kleinen Schüssel spült. Anschließend gehen wir ins Theater und sehen den „Rattenfänger“ mit Giora Feidman an der Klarinette. Zwei Dinge wüsste ich gerne: spricht man ihn Giora oder Dschora und wann wird sich bei uns die erste Ratte tummeln?

15. 10. 1993
Per Einschreibebrief kündigen wir dem uns völlig unbekannten Vermieter eine 50-prozentige Mietkürzung an: verstopfter Abfluss, keine Heizung, klemmendes Badezimmerfenster und nasser Keller.

17. 10. 1993
Um Sieben fegt uns eine Rohrreinigungsfirma aus dem Bett, gefolgt vom Verwalter, der die Heizung wieder in Gang setzt. Na bitte, es geht doch! Der Vermieter lebt in einem anderen Bundesland und betrachtet die Hütte als Abschreibungsobjekt. Was so viel heißt wie: in der Nordstadt kann man billig Häuser kaufen und abgeschrieben sind alle, die darin wohnen – solange sie zahlen.

1. 11. 1993
Ein neuer Computer, ein 17-Zoll-Monitor und ein Laserdrucker zieren nun das Arbeitszimmer. Ich sage ZIEREN, funktionieren wäre etwas anderes. Der Computer lässt sich auch vom Fachmann nicht einrichten und der Drucker … lassen wir das. Verkauft man heutzutage nur noch Schrott oder sollten wir nun auch noch die Stromspannung der Wohnung prüfen lassen? Letzteres scheint angesichts älterer aber arbeitender Lampen, Toaster, Videorekorder (welchen wir zwei Tage nach Kauf in Wiesbaden reklamierten) überflüssig.

20. 11. 1993
Hartmut bemerkt, dass die Heizung immer noch (wieder?) tropft und ruft den Verwalter an. Der kommt, befindet die um die Regler gewickelten Handtücher als nicht feucht genug und entschwindet.

25. 11. 1993
Wir kündigen erneut eine Mietkürzung an: der Keller ist nass, die Heizung tropft, die Therme im Bad räuspert sich verdächtig und das Fenster klemmt. Voller Erfolg: der Verwalter kommt und schleicht stinkwütend ins Bad.
„Kann ER nichtmal eine Schraube drehen?“
Ich kontere beflissen.
„Wofür werden Sie eigentlich bezahlt?“
Seine Rache ist nicht von schlechten Eltern. Statt einer Metallkette, mit der sich das Badezimmerfenster bislang nicht bewegen ließ, haben wir nun eine rote Plastikwäscheleine, die nach drei Tagen reißt. Jüngste Belehrung: Keller in alten Häusern sind so. „So“ heißt, dass dort das Wasser an den Wänden runterläuft. Ganz im Gegensatz zur Heizung, die seines Erachtens nicht tropft, was er als guter Verwalter dem Vermieter mitteilen wird.
Guter Verwalter, teurer Verwalter. Wir bleiben bei der Mietkürzung.

1. 12. 1993
Ich bestücke die Küche mit einem Adventskranz. In diesem Jahr will ich die Weihnachtsstimmung voll auskosten: Jingle Bells, Kerzen, Tannenduft und Zimtplätzchen, dazu Filme aus meiner Lieblingsvideothek. Kss Kss.

10. 12. 1993
Vorweihnacht in der Nordstadt: erstmalig fällt mir der Bastelladen auf der Münsterstraße auf, der Weihnachtskalenderbastelanleitungen für Frauen wie mich (zwei linke Hände) feilbietet. Beim Italiener gegenüber blinkt es aus Ecken, die mir nie zuvor auffielen und der Grappa ist im Sonderangebot. Woolworth läuft zur Hochform auf: für fünf mal fünzig Pfennige (fünf Mark würde ja teuer klingen) kann man mit voller Tüte nach Hause gehen und hat wenigstens nichts Brauchbares darin. Bunte und blinkende Lichter in den Wohnungsfenstern erfreuen sich großer Beliebtheit und am Nordmarkt scheint der Wettbewerb in Sachen Fassadenbeleuchtung ausgebrochen zu sein. Es fühlt sich wunderbar an, wenn in der winters dunklen Nordstadt heimgeleuchtet wird. Wenn es jetzt noch schneit, werde ich mir die White-Christmas-CD für einen schlappen Fünfer zulegen.

Nacht vom 22. auf den 23. Dezember 1993
Um vier Uhr morgens hört Hartmut einen lauten Dieselmotor vor dem Haus und flucht über die Geschäftszeiten der Müllabfuhr. Dann vernimmt er ein Wummern, steht auf, kämpft sich durch dichte Rauchwolken in der Wohnung, öffnet die Tür und wird von Gestalten unter Gasmasken fast umgerannt. Sie stürzen in die Küche und schütten einen Eimer Wasser durch ein Loch in der Tischplatte.
Dort, wo vormals mein Adventskranz weilte, klafft nun ein Loch. Ich bin sicher, die Kerzen ausgepustet zu haben. Dass dabei ein Funken in die trockenen Tannenzweige flog, will Hartmut mir nicht glauben.
Verlustrechnung: ein Küchentisch, ein Glas Walnüsse, sechs Quadratmeter Lackfolie, ein Adventskranz. Glück gehabt?
Zugewinn: Ruß, schmieriger, fettiger, widerlicher Lackfolienruß auf jedem Möbelstück, an den Wänden, auf den Regalen. Somit ist entschieden, dass wir alle Weihnachtsfeiertage bei meinen Eltern verbringen.

27. 12. 1993
Ruß stinkt entsetzlich. Wir renovieren bei offenen Fenstern. Die Nordstadtkinder haben große Freude daran, Chinakracher in Glascontainern detonieren zu lassen. Geruch, Geräuschkulisse und der GRAUenvolle Anblick treiben die Stimmung dem Höhepunkt entgegen. Zum Glück ist meine Freundin Almuth zum Helfen gekommen und weiß als Bergmannstochter, dass gegen Ruß auf Büchern nur das Abwischen mit trockenen Tüchern hilft. Witzig wird es, als wir an die Regale gelangen, in die wir beim Einzug die Bücher gestopft haben, die als längst ausgelesen gelten. Sie erweisen sich als Wundertüte:
„Mensch, Hanni und Nanni,“ lacht Almuth „Stammt wohl noch aus Kindertagen.“
„Nimm’s mit für deine Gören.“
Als nächstes bestaunt sie meine Bukowski-Sammlung, die sie jedoch Hartmut zuschreibt.
„Nixda, das sind meine.“
Ich entdecke Guy de Maupassants „Delikate Abenteuer.“
Ich rufe nach meinem Liebsten, der mit dem Ablösen einer 2000-Mark-Tapete beschäftigt ist und daran nichts delikat findet.
Hartmut hätte meine Bemerkung über Delikatessen vielleicht lustig gefunden, wenn der Pizzamann nicht gerade heute versucht hätte, ihn um das Wechselgeld zu betuppen. Die Hunderter sehen den Zehnern aber auch zu ähnlich!

31. 12. 1993
Die Renovierung ist vollbracht, doch es stinkt immer noch nach Ruß. Hartmut kann seit dem Brand nicht mehr schlafen und findet es wenig lehrreich, Nacht für Nacht den Preisverhandlungen um Beischlaf zu lauschen. Als ich auf dem Einkaufsweg an einer Spielhölle vorbeigehe, fliegt ein Kracher raus. Er landet nur knapp neben meinem langen Mantel. Ich schieße wütend in den Laden, entbiete dem geneigten Männerpublikum einen fremdwortfreien Vortrag und verziehe mich, bevor sie losprusten. Habe fünf Wunderbäumchen Duftnote Wildkirsch erstanden, die ich in der Wohnung verteile. Im nächsten Jahr werden wir wissen, ob Wildkirsch sich gegen Ruß durchzusetzen vermag.
Um 0.00 Uhr gilt es, nach alter Tradition die Schandtat des Jahres zu gestehen. Meine weiß ich schon: Adventskranz. Vorschlag für Hartmut: das Anmieten dieser Wohnung.

1. 1. 1994
Das neue Jahr beginnt schwungvoll. Im Aufbruch nach Paris schleudere ich meine Reisetasche in den großen Spiegel. Was bedeutete das noch mal?

6. 1. 1994
Fünf Tage in Paris waren eine feine Sache. Bei unserer Heimkehr freuen wir uns an den hohen alten Häusern rund um den Borsigplatz, die weltstädtisch anmuten. Und hat der Nordmarkt nicht etwas von den schönen Plätzen der französischen Hauptstadt? Es fehlen nur die Cafés.
Beim Eintreten in unsere Wohnung kommt die olfaktorische Qualität von Ruß an Wildkirsch zum Tragen. Hartmut ist so gut erholt, dass er zu scherzen vermag: „Der Parfümindustrie wirst du das nicht andrehen können. Also musst du die Weltliteratur nach Süßkinds ‚Das Parfüm‘ um Petermeiers ‚Der Duft der Hölle‘ erweitern.“

11. 2. 1994
Die Therme im Bad führt ein beeindruckendes Geheul auf. Der Verwalter weiß das längst, schert sich aber nicht drum. Als heute auch noch der Abfluss der Badewanne die bekannten Gurgeltöne von sich gibt, beschließe ich, das Angebot meiner Eltern wahrzunehmen. Sie sind im Urlaub und wir können ihre Wohnung nutzen. Ein kleiner Streit mit Hartmut lässt mich die Flucht allein antreten.
„Jetzt geht sie zu ihrer Mutter zurück.“ hämt er mir hinterher.
Auf dem Weg in den Dortmunder Westen kaufe ich für ein prachtvolles Trostwochenende ein: Chop Suey, Clarissenbräu und viel Obst. Ich muss mich wieder auf Vorderfrau bringen.
Abends klingelt es und Hartmut steht vor der Tür. Nachdem ich unsere Wohnung befeuert habe, hat er sie heute gewässert. Die Therme machte so ein Gebrüll, dass er sein Badewasser lieber auf dem Herd zum Kochen bringen wollte. Darüber ist er eingeschlafen und zwanzig Liter H2O verdunsteten in der Küche.
Bei der Zubereitung des chop suey entdecke ich in Mutters Kühlschrank Wein zur Verfeinerung. Hinein damit! Hartmut hat guten Sekt mitgebracht. Bei der ersten Gabel des chinesischen Mahles sehen wir einander entsetzt an. Es schmeckt so bitter, dass sich die Fußnägel kräuseln. Ich besehe die Weinflasche genauer. „Schwedentrunk“ steht in Mutters schöner Handschrift gleich neben „Assmannshäuser Höllenberg.“
Jedes Mal, wenn ich denke, es kann nun nicht mehr tiefer gehen, muss ich feststellen, dass dies ein Trug-Trost war.

17. 2. 1994
Wir leihen eine Rohrreinigungsspirale aus und rücken dem Badewannenabfluss zu Leibe. Doch es fühlt sich an, als bohren wir in Beton. Unser Mietvertrag besagt, dass wir einmal jährlich die Therme warten lassen müssen. Darauf beruft sich der Verwalter. Das Wartungsteam verweigert die Arbeit an einer Therme, die ins Museum gehört, wie man grinsend sagt. Es ist wohl wieder mal eine Mietkürzung fällig. Am Wohnungsamt, wo wir uns beraten lassen, schlägt man uns 70 % Kürzung und eine Mietüberprüfung vor. Das, was wir von unserer Wohnung schildern, rechtfertigt nicht mal für einen Beamten elf Mark pro Quadratmeter.

20. 2. 1994
Feuer, Wasser, Erde, Luft, die vier Elemente unseres Planeten. Wir sind erst beim dritten, doch das Maß ist voll.
Fluchend steht der Verwalter an einem sonnigen und sehr frühen Morgen in unserem Bad und behauptet, sich seinen Sonntag anders als in der Scheiße wühlend vorgestellt zu haben. Ich gönne ihm das, verziehe mich aber trotzdem in die Küche, weil ein komplett verstopfter Badewannen- und Toilettenabfluss Land anschwemmt. Die triumphierende Bemerkung „hätten Sie unsere Anrufe mal ernst genommen“ kann ich dem Mann mit dem Gummihandschuhen trotzdem nicht ersparen. Der Rohrnotdienst ist bestimmt verdammt teuer. Aber wenigstens kommen die Jungs sonntags, um festzustellen, dass die Leitungen, aus denen sie u.a. Steine pumpen, von Anno Tuck stammen.
Ich möchte nicht erleben, was hier los ist, wenn das Element Luft über uns hereinbricht.
Meine Eltern sind aus ihrem Urlaub zurück. Sie bedanken sich herzlich für die Flasche Sekt und das Blumengießen. „Astrid, eins noch: die Seidenblume hättest du auslassen können.“

3. 3. 1994
Hartmut wünscht sich, einen so guten Schlaf zu haben wie ich. Er ist sicher, dass das Autorennen der letzten Nacht auf der Nordstraße von einem schwarzen BMW mit Krawallbügel gewonnen wurde. Was der alles hören kann.
Andere bewundern bei ihren Spaziergängen Bäume, Blumen, vielleicht Tiere im Zoo. Wir bewundern Häuser mit modernen Fassaden. Unseres gehört zu den letzten, für die Doppelverglasung der Fenster noch Zukunftsmusik ist. Wir gehen auf Wohnungssuche. Kein Leichtes in diesen Zeiten.

8. 4. 1994
Das Kind der Familie über uns lernt gerade laufen. Das klingt wie tapp, tapptapp, wumm, bääh, tapptapptapptapp. Hartmut meint ernsthaft, sich darüber beschweren zu dürfen. Er gehört schließlich zu den Männern, die hören können, wenn nebenan jemand Yoghurt löffelt und ist nicht in der Lage, fröhliches Kindertrappsen zu ignorieren. Das kann er mal schön ohne mich machen. Am späten Abend frage ich mich, ob die junge Familie ihn gegrillt hat. Aber nein, erklärt er mir am nächsten Morgen, die sind supernett und man habe den ganzen Abend miteinander verbracht.
Ich schlage ihm vor, sich doch auch mit der neuen WG im Hause anzufreunden. Die stehen nämlich auf Techno, was man ja gar nicht leise hören darf, wenn man mit 22 noch ernst genommen werden will. Als ich von der Arbeit nach Hause komme, meine ich schon in guter Entfernung zu hören, dass Pavarotti und die Callas ein Konzert auf dem Nordmarkt geben. Mitnichten. Hartmuts Nerven liegen so brach, dass er sich mit Anpassung an die Gepflogenheiten vor Außeneinflüssen schützt.

29. 4. 1994
Man kann schon wieder draußen sitzen. Der erste Besuch im Gypsy-Biergarten ist genau wie im letzten Jahr ein Ereignis. Wer ahnt schon, dass man nur durch eine Toreinfahrt schraten muss, um sich wie im Urlaub zu fühlen?
Will ich wirklich aus der Nordstadt wegziehen? Es kann so schön sein hier. Doch mit Hartmut ist nicht einmal darüber zu reden, in diesem Stadtteil nach einer neuen Wohnung zu suchen.

2. 5. 1994
Zum ersten Juni können wir unsere neue Wohnung beziehen – oben an der B1, gegen deren Geräuschkulisse wir mit vierfach verglasten Fenstern geschützt werden. Sie hat eine viel bessere Zimmeraufteilung und – Balkon! Dafür ist sie gleich 250 Mark billiger als die alte. Für die gibt es leider eine Kündigungsfrist von drei Monaten.

16. 5. 1994
Der große Tag ist gekommen: heute dürfen wir erstmalig unserem Vermieter Aug‘ in Aug‘ gegenüberstehen. Jung, schlacksig, gerissen. Stolz zeigen wir ihm all die Mängel, die ihn viele Monate Mietminderung kosteten. Er erkennt die Probleme sogleich, doof ist der Mann nicht. Fast hätten wir frohlockt, da zeigt er sein eiskaltes Abschreibergesicht. Er beginnt, um Mietminderung, Kündigungsfrist und Kautionsrückzahlung zu feilschen. Obwohl er blond ist und hessisch babbelt, bin ich sicher, dass er auf einem Bazar groß geworden sein muss.
(Nachtrag: was ihm wenig nützt. Die Mietüberprüfung durch das Wohnungsamt läuft und wir erhalten ein Jahr später eine Rückzahlung von rund 1000 DM)

25. 5. 1994
Eine polnische Familie sieht die Wohnung an, die wir in wenigen Tagen verlassen werden. Es ist mir eine Freude, sie auf jeden kleinen und großen Mangel hinzuweisen. So nimmt die Besichtigung eine geschlagene Stunde in Anspruch, die unserem Verwalter weniger die Schamesröte ins Gesicht treibt, als vielmehr seine Wutadern schwellen lässt. Ich gebe den Columbo: jedes Mal, wenn er mit ihnen zur Tür raus will, fällt mir noch ein Mangel ein. Sie nehmen die Wohnung trotzdem.
Die Ärmsten – aber wenn man unter Zeitdruck sucht…