Astrid Petermeier

Neues aus dem Rührgebiet

Astrid Petermeier: Strawberry love – forever?

Frieder war verdammt froh, dass Harald nicht zu diesen Typen gehörte, für die Liebe bedeutete, plötzlich keine Verwandten mehr zu kennen – wie er sich auszudrücken pflegte, obwohl nicht ein Quäntchen roten Saftes derselben Blutgruppe durch ihre Adern rauschte. Seit Harald und Ina sich zur Spezies der Jungverliebten zählen durften, also seit ungefähr drei Monaten, musste Frieders alter Kumpel noch an keinem Abend im Bohemia vermisst gemeldet werden. Das konnte nur daran liegen, dass bereits die Vorgänger der jetzigen Wirtin Schienen von Haralds Atelier zu ihrer Kneipe hatten verlegen lassen. Immer, wenn er den Meißel fallen ließ, zog es ihn direkten Weges an den Thresen, Zunge und Overall staubbedeckt.
Andererseits hätte es Frieder nicht Wunder genommen, wenn Harald sich wie ein typischer Jungverliebter verhielte: so lange, wie der sich schon allein durch’s Leben schlug. So wunderbar, wie diese Ina war! Köchin! Er durfte sich gar nicht vorstellen, womit sie den dürrappeligen Harald wohl verwöhnte. Da kriegte er ja sofort eine Pfütze auf der Zunge. Jeder am Thresen des Bohemia hätte für die rotgelockte Ina, für diese fleischbereitende Reinkarnation der Venus von Milo sich selbst, seine alten Künstlerfreunde, ja vielleicht sogar sein Atelier vergessen.
Nun gut, mit Ausnahme von Haralds Mutter, die despektierlich behauptet haben sollte, diese Ina könne froh sein, als Alleinerziehende-mit-Kind ihren Harald überhaupt abgekriegt zu haben. Aber Haralds Mutter saß ja auch nicht an diesem Tresen – welch’ Glück! Ihr Sohn hingegen ließ soeben das dritte Bierchen durch seine staubtrockene Kehle rinnen und gab hernach ein lautes „Zischschsch“ von sich.
„Liebe beflügelt!“ verkündete Harald.
Frieder, der dicke Erwin und die-ewige-Ulla nickten nur, wenig gewillt, sich zum dritten Male anzuhören, zu welch’ großartiger Skulptur Harald sich durch seine Liebe inspiriert sah.
„Ach?“ Wirtin Lula schmierte mit weichem Stift emsig einen Strich auf Haralds durchweichten Deckel. „Ich dachte immer, Liebe geht durch den Magen. Wo du doch jetzt so dolle bekocht wirst.“
„Was gibt’s denn heute?“ nutzte Frieder die Chance zum Themenwechsel.
„Alles, was Ina für mich kocht, übersteigt eure gefräßigen Fantasien.“ frohlockte Harald. „Und trotzdem sage ich euch: meine Göttin liebt mehr als meinen Magen. Wenn sie diese Skulptur sieht, wird ihre Liebe zu mir unermesslich sein.“
Lula schüttelte unmerklich den Kopf. Sie gönnte Harald sein Glück so sehr. Der Bengel hatte es nie leicht gehabt: ein Künstler, der wie die meisten wenig Anerkennung erfuhr, der oft nicht wusste, wovon er leben und Miete zahlen sollte, den die Ämter in Orange kleideten und mit dem großen Besen auf die Straße schickten, dem die Einsamkeit lange Jahre aus den großen braunen Augen geschaut hatte, der einfach nie wusste, wohin er gehörte.
Sie sah ihm lächelnd hinterher, als er sich nach dem siebten Biere zu seiner Ina aufmachte, die ihn nicht nur bekochte, sondern ihm auch ein weicheres Bett als die Pritsche im Atelier und – aller Nasen dankten dem Himmel – eine Badewanne bot.

Harald roch schon im Hausflur, was sich da anbahnte: etwas, das eklig süß und schleimig war, pustelig und klebrig. Es war der Duft seiner übel gelaunten Mutter, die ein Kopftuch trug, damit die Dünste ihre Dauerwelle nicht beeinträchtigen konnten. Mit diesem schweißgetränkten Kopftuch konnte sie um sich schlagen wie ein wild gewordener Alligator, wenn der Sohnematz sein Fingerchen in eines von 135 Marmeladengläsern zu stecken wagte. Und das tat höllisch weh, war demütigend. Jahrzehntelang hatte dieser Geruch ihn gelehrt, sich so klein als möglich zu machen, was bei seiner Schlacksigkeit kein leichtes Unterfangen war. Bis er endlich das Weite suchte und fortan Marmelade mied wie der Teufel das Weihwasser.
War es etwa Ina, aus deren Küche dieser Pestgestank kroch? Wie konnte sie ihm so etwas antun? An diesem Tag, da er die Skulptur fertig gestellt hatte, die seinen Durchbruch bedeuten würde!
Langsam nahm er Stufe um Stufe. Im ersten Stock hoffte er noch, dass die Ursache dieser olfaktorischen Demütigung im zweiten kleben bleiben würde. Er tat jeden Schritt mehr denn bewusst. Die rettende Idee kam mit der letzten Stufe: Marmelade aß man zum Frühstück! Jetzt war Abend. Er würde morgen den frühen Vogel geben, das war mal klar. Er würde entgegen jeder Gewohnheit um sieben aufstehen. Nein, um sechs, noch bevor Inas Tochter in den Kindergarten musste. Zur Marmeladenprävention wäre Harald sogar um halb sechs aufgestanden.
Wie immer stand sie in der Tür bevor er den Schlüssel einstecken konnte, den sie ihm zum Zeichen ihres offenen Herzens nach drei Liebeswochen überreicht hatte. Sie trug das tief ausgeschnittene Erdbeerkleid – mitten im November. Auch das noch! Was ihn im Spätsommmer in Verzückung versetzt hatte, wirkte auf einmal picklig wie die grünen Stippen dieser Früchte in ekligem Kompott.
„Heii, mein Süßer!“ rief sie ihm freudig entgegen.
„Meine Schöne“, murmelte er und fragte sich, wie ernst er das meinte, wie ernst vor allem sie den Süßen meinte.
„Ich habe eine Überraschung für dich!“ das kam nun von beiden gleichzeitig. Sie lachten, küssten sich und gurrten noch-ein-Jahr – wie immer, wenn sie zugleich dieselben Worte sagten.
„Ich habe die Skulptur meines Lebens geschaffen! Für dich, Ina, du bist meine Muse.“ sagte er, noch bevor sie zu einem du zuerst überhaupt ansetzen konnte. Es würgte ihn, je tiefer er in die Wohnung vordrang. Warum schlug sie die Erdbeeren auf ihrem Kleid? Verstand sie ihn etwa? Nein, sie klopfte den Staub aus, den sein Overall bei der Umarmung hinterlassen hatte.
Wenn das nicht die Rettung war! Er sprang ins Badezimmer und entledigte sich flugs all seiner Kleidungsstücke. Nackend konnte er nicht in die Küche, den Hort allen Übels, an dem sich zum Abendbrot auch Inas Tochter aufhielt. Die geliebte Frau sah ihm überrascht hinterher. Harald riss sich sonst selten um ein Bad.
„Willst du gar nicht wissen, was ich für dich habe?“
Nein, wollte er nicht. Doch wie sollte er ihr das sagen, ohne das Grauen seiner Kindheit preiszugeben? Sie würde ihn nicht mehr lieben, wenn sie wüsste, aus was für einem Stall er gekrochen, geflüchtet, entronnen war. Harald war froh, dass das Einlaufen des Badewassers alles übertönte und gab eine Fichtennadeltablette hinzu, den Gestank abzumildern.
Er vernahm, wie Ina etwas von „Lieblingsfrüchten“ rief. Hätte er ihr doch anlässlich des hocherotischen Sommerkleides im Früchtchenmuster nie dieses Kompliment gemacht!
„Hast du ne Ahnung, wie schwer die um diese Jahreszeit zu kriegen sind?“
Er verbrannte sich die Füße im zu heißen Wasser, bis über die knochigen Knie mit Schaum bedeckt. Kaltes nachfließen zu lassen hätte seine Mutter als üble Verschwendung gegeißelt.
„Nicht auf dem Markt, nicht im Rewe, ja nicht mal beim Italiener in Buer, der doch sonst immer alles hat. Bis zum Feinkostladen nach Dortmund musste ich. Teuer, teuer, aber traumhaft schön und aus Neuseeland. Für dich hätte ich Erdbeeren dort auch persönlich abgeholt, mein Schatz.“
Harald setzte sich in den Schaum, was seine Zeugungsfähigkeit nicht eben erhöhte und dachte über wunderschöne, von Aboriginees mit Liebe angebaute Erdbeeren nach, die um die halbe Welt reisten, um ausgerechnet in Gelsenkirchen-Bulmke-Hüllen ihr Marmeladengrab zu finden. Er begann, den Badeschaum mit den Händen zu formen.
„Und dann frischen Rosmarin dazu. Magst du Rosmarin? Das duftet wie toll und ist höllisch lecker zu Erdbeeren. Ich habe dir eigens noch Brot dazu gebacken.“
Wie toll würde er gleich auch reagieren, wenn sie noch lange von dem Stoff schwadronierte, aus dem für Harald nur Albträume gemacht waren. Er zog es vor, sich der Schaumgestaltung hinzugeben. Vielleicht kriegte er eine Replik seiner Skulptur hin.
„Der Wahn-sinn! Brennt mir das Zeug erst an, weil Elkes Kindergarten-Tante anruft…“ er witterte Morgenluft, doch zu früh „…und dann wollte es wieder nicht recht gelieren.“
Allein bei dem Wort hätte er schon in den Schaum kotzen mögen, der gerade so gut Form annahm. Es wurde und wurde, Schaumkunst, nicht für die Ewigkeit, doch einfach gelungen unter seinen Händen.
„Ina, Liebling, komm doch mal ganz schnell!“
Die Bläschen bauten schneller ab als ihm lieb war. Sie musste einfach bewundern, was ihm da gerade gelungen war. Die Badezimmertür öffnete sich, doch Harald sah nur noch sein Werk.
„Sieh’ mal, was sagst du zu meiner Überraschung?“ säuselte Ina, von der nur eine Hand zu sehen war, die einen Teller mit Erdbeermarmeladenhäppchen trug. Harald sah gar nicht hin, was Ina erst bemerkte, als sie die Tür weiter öffnete. Sie erspähte erstaunt den Mann ihrer Träume, der in der Wanne hockte und fasziniert in einen unförmigen Schaumwulst glotzte, statt ihr und ihrer Überraschung auch nur einen Blick zu gönnen.
„Mach die Tür zu!“ fuhr er sie an. „Du ruinierst ja alles mit deinem kalten Luftzug.“
Ina trat näher, noch guten Willens. Sie hielt ihm den Teller direkt unter die Nase. Im Reflex fuhr seine Hand hoch, schmetterte mit Wucht vor den Teller, der an den Wandfliesen zerschellte, sodass die Marmeladenhäppchen in die Kunst aus Schaum purzelten, eines gar in seinem Brusthaar kleben blieb.
„Bist du irre?“ schrie sie, brüllte er.
Diesmal sagte keiner von beiden noch-ein-Jahr. Tränen sammelten sich in Inas Augen. Der Teller war eine letzte Erinnerung an die Großmutter. Haralds Augen vermeldeten erst Hass: die Marmeladenhäppchen hatten den Kopf seiner Schaum-Skulptur durchlöchert. Dann blitzte Ekel auf. Er griff sich angewidert in das Gelöck auf der mageren Brust. Zuletzt aber obsiegte die Hoffnung: diese Dinger würde er nicht mehr runterwürgen müssen. Sieg der gerechten Sache!
Ina deutete Haralds Grinsen nicht genau, aber doch halbwegs richtig.
„Freust du dich etwa? Merkst du noch was?“
Er versuchte es mit einem unschuldigen Augenaufschlag, der misslang.
„Diesen Teller hat sich meine Uroma vom Munde abgespart für die Aussteuer meiner Oma!“
Er machte nur ein dumpfes „Sorry, du hast mich erschreckt“, was das Feixen von seinem Gesicht nicht verjagte und ließ das letzte Bröckchen der Ekligkeit ins Wasser fallen, wo es neben seinem Gemächt darniedersank.
„Um die Marmelade ist’s nicht schade, ich habe etwa 135 Gläser davon gekocht.“ setzte sie hinzu, griff zu einem Handtuch und wollte es ihm reichen.
Er schrie auf, hielt die Hände schützend wie abwehrend vor das Gesicht. Ina ließ entsetzt das Handtuch sinken, hielt es nur noch mit einer Hand. Dieser Anblick versetzte Harald in Raserei. Aufspringen, dabei in eine Scherbe treten, schreien, ausrutschen, sich an Ina festhalten, brüllen wie ein Tier und sie mit einer Hand ins Gesicht schlagen war eins.
„Mama, mag der keine Marmelade?“ rief eine Kinderstimme.
Ina stieß Harald mit aller Kraft in die Badewanne zurück. Sie wandte sich zur Tür.
„Anziehen. Raus!“ sagte sie knapp, bevor sie dieselbe hinter sich schloss.

Harald brauchte eine hautschrumpelnde Weile bis zu ihm durchgedrungen war, was sich soeben ereignet hatte. Das Ende seiner einsamen Tage hatte sein Ende gefunden. Wegen einer gottverdammten Marmelade. Oh, wie er das Zeug hasste! Und nun musste er auch noch frisch gebadet wieder in seinen staubigen Overall. Er hörte Ina und die Tochter in der Diele hantieren, hörte die Kleiderschranktür knarren, hinter der sich seine frischen Unterhosen, Hosen, Hemden befanden. Er ahnte, was sie da trieben.
„Wenn er gar nicht probiert hat, kann er gar nicht wissen, ob deine Marmelade ihm schmeckt oder nicht.“ plapperte das Kind. „ Wenigstens probieren muss man immer.“
Harald hatte nicht schlecht Lust, sich den Rest Schaum kunstvoll um den Schwanz zu schmieren und im Flur die große Nummer hinzulegen. Aber wollte er sich hinterher auch noch als Kinderschänder diffamieren lassen? Kinder, die waren auch nicht besser als Marmelade! Wie konnte er sich nur mit einer Alleinerziehenden einlassen? Er schlug wütend mit dem nassen Handtuch auf das Wasser.
„Schätzchen, mach doch mal die CD an, die ich extra aufgelegt habe.“ hörte er nun Inas Stimme.
„Darf ich dann auch die Erdbeermarmelade mit Pudding essen? Wenn Harald keine mag, kann ich doch…“
„Alles darfst du, meine Süße.“ Ina schrie fast. „Du weißt doch: Mutterliebe geht durch den Magen.“
Beim Rest dieser Vorführung übertönten die Beatles Haralds hingerissenes Erbrechen: Strawberry Fields Forever.

Wirtin Lula zapfte im Akkord für Harald, Frieder, den dicken Erwin und die-ewige-Ulla. Gleich würden sie zum Gedeck übergehen, weil Bier mit Korn schneller knallte, wenn man vor Selbstmitleid triefte. Just als Lula wieder eine Lage um die Ecke brachte, stolperte sie über Haralds große Reisetasche. Soeben federte sie das Tablett noch ab. Ihr Fuß aber schmerzte, war vor etwas Hartes gestoßen.
„Hast du deine bahnbrechende Skulptur etwa da drin?“ murrte sie.
„Aus Liebe gemacht.“ zeterte Harald, „bloß vertragen sich Kunst und Liebe nicht.“
Lula wurde neugierig, stupste nochmals vor die riesige Reisetasche, in der sie Haralds Habseligkeiten mutmaßte.
„Da drin doch nicht. Meine Liebe war viel größer als wie da reinpasst. Meine Kunst aber, das sage ich euch, die wird…“
„Nur ein einsamer Künstler ist ein großer Künstler.“ erlöste Frieder Harald vom Ende eines aussichtslosen Satzes.
Lula öffnete die Tasche und zog ein Marmeladenglas hervor. Warum nur packte Ina dem Mann, der sie vorhin verlassen hatte, noch Marmelade ein?
EIN TRAUM FÜR MEINEN TRAUM hatte Ina das Glas beschriftet.
„Harald, jetzt mal Butter bei die Fische: was war wirklich los?“
Lula knallte wütend das Glas auf den Tresen. Das konnte sie leiden, wenn so ein Kindskopf sie auch noch anlog: er sei nun mal kein Typ für eine Mutter!?
Ein wenig Marmelade war Ina in der Hektik wohl übergeflossen. Lulas Finger blieb daran kleben.
Loslassen.“ lallte Harald.

4 thoughts on “Astrid Petermeier: Strawberry love – forever?

  1. Prima Story, aber wie Sie sich vielleicht dunkel erinnern, die Alte hat immer was zu meckern. 1. In Neuseeland leben die Maori. 2. Die Kurzgeschichte muss nach der Zeile „EIN TRAUM FÜR MEINEN TRAUM hatte Ina das Glas beschriftet“ zu Ende sein.
    Lis

  2. ganz schön vielfälltig eure marmeladengeschichten! gefällt mir gut, krabbe

    • Daaanke, das lesen wir gern! Endlich mal eine, die sich die Mühe macht, einen Kommentar zu geben. Wir bekrabbeln uns gerade vom letzten Marmeladenfrühstück…

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