Astrid Petermeier

Neues aus dem Rührgebiet

Claudia Dorka: FORT.WEG.GANG

POMPF.
Mit entschiedenem und elegantem Schwung federn die Kofferverschlüsse nach oben.
Ausrufezeichen des Aufbruchs.
Aufrecht. Klar. Eindeutig.
Wenn sie ihn jetzt aufmacht, dann könnte alles wirklich werden.
Losgehen. Weggehen. Ankommen – vielleicht.
Sie zögert. Denkt nach.
Alles in ihr ruft: „Jetzt. Öffnen!“

Abrupt schreckt sie hoch. Ihre Hände schnellen in die Höhe. Ihr Herz rast.
War da wer?
Tief atmen.
Ruhig werden. Damit die Ohren durch den pulsierenden, dröhnenden Angststrom wieder etwas hören können. Im Nacken kalter Schweiß.
Tief atmen.
Füße rechts und links auf den Boden stellen, den Stuhl unter ihrem Po wieder spüren – Lebenshaftung.
Nein,…….- Sie hatte die Lage gecheckt, bevor sie in ihre Dach-Traum-Kammer heraufgestiegen war -…………………………..da ist niemand.
War niemand. Konnte niemand sein!

Ganz ruhig. Sich erinnern wo sie war.
Allein. Koffer vor ihr. Dachkammer!
Hier oben hörte sie manchmal nur den Staub fallen, zart und leise.
Flirrende Partikelchen, die Sonne fangend, zeitlossanft.
Hier konnte ihr nichts geschehen, durfte ihr nichts geschehen, geschah ihr nichts.
Tief atmen.

Unschlüssig sitzt sie jetzt vor dem alten schäbigen Reisekoffer aus Pappkarton.
Sie kennt jede Macke, jeden Kratzer, jedes abgeschabte Eckchen an und um ihn auswendig. Ungezählte Sekundenminutenstunden hatte sie schon davor gesessen und sich fort gewünscht. Sie weiß, wenn sie es schaffte, den Koffer zu öffnen, dann gäbe es kein Halten mehr.
Dann würde sie gehen. Dann würde sie alles stehen und liegen lassen. Dann wäre sie weg. Dann, ja dann, dann, dann, dann wäre sie mutig, stark und dann…….

Sie reckt sich auf ihrem Stuhl, schaut auf die signalhaft nach oben deutenden Kofferverschlüsse, legt ihre Hände rechts und links davon auf den Koffer.
Diesmal wird sie den Deckel anheben.
Diesmal wird alles anders sein.
Diesmal….
………….und bevor sie noch dazu kommt, diesmal den Kofferdeckel freudvoll nach oben zu schubsen, vollzieht sich etwas wie vorprogrammiert in ihr.

So als hätte sie keine Wahl.
So als wäre alles auf immer und ewig vorgezeichnet.
So als blieben Kopf, Körper und Herz auf ewig zersplittert.
In einer Millisekunde sieht, fühlt, hört sie alles gleichzeitig:

Sich auf dem Stuhl sitzend mit den Händen auf dem Koffer.
Ihre innere Gespanntheit, die sich in einer energischen Bewegung davonlaufend in äußere Befreitheit lösen möchte.
Und sie hört diese Stimme in ihren Ohren, fast zärtlich säuselnd: „Vergiss es!“
Und während sie all dies gleichzeitig erlebt, hört sie sich sagen: „Vorbereitung ist wichtig!“, spürt währenddessen, wie ihre Daumen energisch die Verschlüsse erst hinunter und dann mit festem Druck hinein in die Schließen drücken.

SIRR. KLACK. KLACK.
ZU!

Etwas in ihr versteckt sich.
Etwas in ihr macht dicht.
Etwas in ihr schlägt die Türe zu.
Etwas in ihr freut sich. Etwas in ihr gibt auf.
Etwas in ihr übernimmt jetzt die Führung.

Ihre Hände liegen in ruhiger Gespanntheit auf dem Kofferdeckel. Die Daumen, leicht nach unten abgewinkelt, spüren die Schließen.
Und da ist doch noch etwas in ihr, das jetzt und sofort diese Schließen in einer einzigen Bewegung rechts-links-synchron öffnend aufziehen wollen. STOP!
Kann ein STOP in den eigenen Ohren inwendig kreischen?
Bei ihr schon.

Während das STOP in ihr verhallt, übernimmt das ZU! die Reiseleitung.
Fordert die Hände auf, sich selber zu beruhigen.
So wie schon ungezählte Sekundenminutenstunden zuvor.
Ein trockenes Schluchzen verdorrt ihr in der Kehle.

Ihre Augen sind geschlossen.
Wie in Trance bewegen sich die Hände auf ihrem vertrauten Untergrund.
Gleiten, tasten, laufen, ziehen sich über die Koffer-Oberfläche.
Und spüren.
Jetzt rau. Jetzt wellig, Jetzt dumpf. Jetzt zart.
Beruhigend.
Jetzt rechts, eine kleine Vertiefung und links, etwas Glattes.
Sättigend.
Beide Handflächen gleiten, in tempo, eisbahnglatt zum Kofferende.
Nährend.

Ein wohliger Seufzer umhüllt die Rutschenden.
Und da beginnt er.
Der Tanz.

Finger im mittleren Gelenk abgeknickt.
Handballen in der Luft.
Synchrones, zehnfach-fältiges Auf und Ab am hinteren äußeren Rand des Koffers.
Sie klackern einzeln auf dem Wulstrand, wie Finger auf den a-s-d-f-Leer-Leer-j-k-l-ö-Tasten der Schreibmaschine.
Durcheinander, auf der Stelle, temporeich, stakkato.

Abrupt trennen sie sich. Fächern sich auf.
Eine Hand ab nach rechts. Eine Hand ab nach links.
Fegen schwungvoll über den Deckel hinweg. Fallen fast ins Leere.
Klappen wie Vogelschwingen nach unten ab.
Finden Halt dort, wo der Kofferdeckel auf der Kofferunterseite liegt.
Die Daumen halten engen Kontakt mit dem Deckel, liegen verlässlich oben auf.
Ankergleich.

Bis hierhin war alles gutgegangen.
Jedes Detail exakt platziert.
Der Ablauf stimmig.
Punktgenau. Beruhigend. Korrekt.
Ihr Zu! entspannt sich.
Alles richtig gemacht!

Ab hier beginnt das Abenteuer!
Zwischen Deckel und Boden leben die Koffererinnerungen.
Vergessen der Dachboden. Vergessen das Leben. Vergessen die inneren Kammern.
Nur Haut auf Pappe – wissend fühlt sie versteckte fremde Koffergeschichten.

Piano, pianissimo ziehen acht Finger – Millimeter um Millimeter – den kaum spürbaren Spalt nach.
An den Fingerkuppen beginnen die Sensationen, entladen sich in ihrem Körper, in ihrem Kopf.
Hoffnung lässt sie lächeln. Trauer kloßt im Hals. Freudentränen wässern ihre Wangen. Schmetterlinge tanzen im Bauch. Hände fühlen Hände.
Ihr Herz klopft vor Aufruhr.
Alles vernetzt sich.
Alles ist Jetzt-Eins-Hier.
Bilder fremder Leben flackern im Millisekundenrhythmus über ihre innere Leinwand.

Presto. Prestissimo:
Flughafenschalter mit lächelnder Blondine im Flugbegleiterinnenkostüm…..

Kussmund. Männlich. Brauner Oberlippenbart. Oberer rechter Schneidezahn Ecke ab…..

Holzhaustür, verfallen, moosig, halboffen, dunkler Spalt…..

Zwei schwarze Socken, ein lila Plastikkulturbeutel, eine braune Lederpeitsche, ein knallrotes Mieder…..

Blaue Augen, Azur wie das Meer, tief, klar, einladend…..

VW-Bus, alt, rot-weiß, offene seitliche Schiebetür, junger Mann mit langen gelockten blonden Haaren schläft, Mund halboffen hinten auf der Matratze, wird kleiner und kleiner, als würde jemand rückwärts von ihm weggehen, Augen unverwandt auf ihn gerichtet, rechter Arm schwer vom dranhängenden Koffer, Füße setzen sich rückwärtig – leise, leise, leise – in Richtung Zukunft…..

Ein Stofflamm, ein zerknautschtes Schokoriegelpapier, ein roter Apfel, drei Paar gestrickte blaue Socken, eine Unterhose auf der Samstag draufsteht – in Weiß, rotes Taschenmesser, verknautschte Familienbilder: Papa, Mama, Oma, Geschwister, ein rostiger…..

„Was verdammt nochmal machst Du da?! Komm da sofort raus!!!“

Grünes Auge. Braunes Auge. Blaues Auge. Geizig-schmale Lippen. Erhobene Hand. Geschüttelter Körper. Haare fliegen. Kotze….

Die Tür bebt vor Menschendruck. Die Klinke hüpft hektisch Auf und Ab….

POMPF.
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Claudia Dorka
November 2015

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