Astrid Petermeier

Neues aus dem Rührgebiet

Claudia Dorka: Buswartehäuschen Nr. 12

Ein grellroter Tupfen schmiegte sich im grauen Buswartehäuschen Nummer 12 an die rechte Seiten-Glaswand. „Stimmt, heute ist ja Donnerstag“, murmelte Jim im Kiosk gegenüber leise vor sich hin. Während er die neuen Zeitungen einsortierte, schaute er wieder und wieder hoch. Alles war so wie immer an einem Donnerstag um 8 Uhr morgens. Fast alles.
Jim rieb sich die müden Augen und schlurfte dann zum Kalender. Es war der 20. März, Frühlingsanfang, deshalb war der Fleck rot. Hannah hatte dem Winterblau wie in jedem Jahr adieu gesagt und das Frühlingsrot ausgepackt. Ein Lächeln huschte über Jims Gesicht:
„Meine Güte, Hannah, wie ist die Zeit vergangen. Und ich sortiere immer noch die Tages-Zeitungen auf und die Schmuddelpornos unter den Ladentisch, schenke mit böswilliger Arroganz braune metallische Brühe als Kaffee aus, höre dem Reden der Menschen zu, knurre in meinen grau werdenden Bart und tue so, als sei dieser Kiosk die Erfüllung all meiner Lebensträume. Und Du, Du wartest immer noch auf den richtigen Bus. Du wüsstest es, wenn er reinführe. Genau in diesem Augenblick, dann wüsstest Du Bescheid. Nicht Zögerlichkeit hielte Dich zurück, nein, der Richtige sei eben noch nicht eingefahren.“ Jim schüttelte den Kopf. „Ach meine blau-rote-gelb-grüne Hannah.“
Hannah fühlte die vertrauten angeritzten Banklatten unter und die angenehme Kühle der Glaswand neben sich, pustete genüsslich in die warme Kaffeetasse und ließ die Beine baumeln. Erst das rechte Bein schwingen, dann das linke und dann einfach baumelnd weiterschwingen lassen. Wenn sie niemand unterbrach, dann tanzten die Baumler, ganz ohne ihr Zutun und der Po begann mit zu wippen, die Taille und die Wirbelsäule reihten sich ein und ganz oben am Kopf wurde es pulsierend warm.
Sie seufzte wohlig. Beine baumeln! Das war das Zweitschönste beim „Auf-den-Bus-warten“. Das hatte sie schon immer gerne gemacht und das ließ sie sich auch jetzt nicht madig machen. Auch nicht von der schrillen Glasspringstimme ihrer Mutter, die in ihrem Kopf rumspritzte und immer wieder so etwas ätzte wie „IN DEINEM ALTER NOCH MIT DEN BEINEN BAUMELN“ – natürlich in Großbuchstaben. „Ach Mutter, gib Ruh“ murmelte Hannah leise vor sich hin.
Sie liebte ihre Donnerstage und sie liebte ihren Platz im Bushäuschen Nummer 12. Eine so wunderbare Routine! Sie grinste stillvergnügt vor sich hin. Jaja, sollten doch die anderen denken, dass sie auf den richtigen Bus wartet. Diese Erklärung schien ihr von allen am einfachsten. Eine Leute-Erklärung eben.
Auf den richtigen Bus warten! Warum sollte sie sowas Dämliches tun? Packen, ein Ziel haben, sich zusammen mit den andern Reisenden in einen engen Bus quetschen, ihnen zuhören, sie riechen müssen! Und das stundenlang! Um dann am Zielort ausgespien zu werden, mit dem Koffer wie ein Trottel in der Gegend rumzustehen und blinzend in die Fremde zu schauen. Pah, das war nichts für sie! Sie war gerne da, wo sie war, vor allem seit ihre Mutter vor 8 Jahren gestorben war.
Herzlos hin, herzlos her – ja sie war froh seitdem. Endlich konnte sie sie selber sein, endlich kreischte sie diese Mutterstimme nicht mehr an, endlich sezierten sie diese kalten blauen Augen nicht mehr, endlich hatte es ein Ende mit: „WIE KONNTEST DU MIR BLOSS PASSIEREN!“.
Und gleich darauf einen Dujardin, vor lauter Verzweiflung. Also in echt war es Birnengeist, aber die Dujardin-Werbung hatte Hannah immer so gefallen, also baute sie die in das Mutter-Drama lieber mit ein. War die Realität nicht so, wie Hannah sie gerne hätte, dann zauberte sie eben.
Und der Birnengeist erschien ihr immer viel zu profan für das Mutter-Drama. Zum Dujardin dachte sie sich noch eine lange zweireihige Perlenkette um den faltigen Hals und eine qualmende Kippe im langen Zigarettenhalter in die gichtige Hand – und schon war das Leiden hübsch plüschig und nicht mehr ihre Sache. Dann senkte sie noch schamhaft die Augen, machte den Rücken rund, seufzte tief und verließ äußerlich gebeutelt das Mutter-Zimmer.
Ja, sie wäre gerne Schauspielerin geworden. Verboten! Dann wenigstens Tänzerin. Verboten! Dann wenigstens…. Verboten! Erlaubt war eigentlich nur, der Mutter zu dienen, auch der Vater hatte das nicht verhindern können. Na wie auch, hatte er doch ziemlich schnell das Weite gesucht – mit dem Bus. Hannah gluckste vor Lachen.
Seitdem hasste ihre Mutter alle Männer, alle Busse und alles, was mit Bussen zu tun hatte. Vielleicht war Hannah deshalb zum Busbahnhof gegangen. „AUS REINER OPPOSITION EBEN“, wie ihre Mutter kreischte, als ihr Ausflug durch eine Nachbarin, Mutters beste Freundin und mieseste Petze der Gegend, an’s Licht gekommen war.
Heute genau vor 10 Jahren war das. Als Hannah damals gesehen hatte, wie verzweifelt und wie hilflos ihr Busbahnhof-Ausflug ihre Mutter gemacht hatte, beschloss sie, regelmäßig einmal in der Woche dorthin zu gehen. Da sie das erste Mal an einem Donnerstag ausgebüxt war, wurde der Donnerstag also ihr Busbahnhofstag. In der kleinen Hutmanufaktur, in der sie arbeitete, lief es gerade nicht so gut und es war einfach, „aus familiären Gründen“ nur noch 4 Tage dort zu arbeiten. Hannah war damals Mitte 20 und kam sich so verrucht vor, wie einst Colette. Die sie aus tiefstem Herzen bewunderte und deren Ausspruch „Du wirst Dummheiten machen, aber tue sie mit Begeisterung.“, für Hannah schon immer eine persönliche Ermunterung gewesen war.
Bevor das Bushäuschen 12 zur ihrem Stammplatz wurde, hatte Hannah sorgfältig jede Bank in den restlichen 23 Bushäuschen auf ihre Baumeltauglichkeit hin überprüft und befunden, dass keine andre Bank diese ideale Höhen- und Sitzflächenverhältnisse aufzuweisen hatte. Also belebte sie, wie sie es nannte, jeden Donnerstag von 8 Uhr morgens bis um 5 Uhr abends das 12er-Häuschen – genau gegenüber von Jims Kiosk, wie sie später feststellte.
520 Donnerstage, heute mit eingerechnet, hatte sie Menschen kommen und gehen sehen, für kurze Zeit das Wartehäuschen und ihre Geschichten mit ihnen geteilt; wurde Zeugin unzähliger Ankommens- und Abschiedsküsse und, das waren echte Highlights, veritabler Auseinandersetzungen.
Einmal hatte eine junge Frau ihren Rucksack aus dem Fenster des anfahrenden Busses geschmissen, einen Sonderhalt erzwungen und beim Aussteigen die schmutzige Wäsche mit dem untreuen Kerl vor aller – offenen – Augen und – gespitzten – Ohren, ordentlich gewaschen. Nicht nur Hannah war mächtig beeindruckt von den Wortkaskaden der jungen Frau, auch der Busfahrer starrte sie fasziniert an und vergaß das Weiterfahren. Und nur diese Pflichtvergessenheit ermöglichte den schönsten Moment dieser Szene: Ihr lautes „Fahr zur Hölle!“ knallte über interessiert zuhörende, lila-grau gefärbte Damenschöpfe mit Ziel Bingo-Sause in Brighton, umstreifte die feisten Stiernacken junger Fußballfans mit dem Ziel Tottenham und donnerte mitten in dass hochrote Gesicht des untreuen Delinquenten. Dem fiel die Kinnlade runter, die Zunge baumelte blöde einen Moment über die Unterlippe und, bevor er sich strecken konnte, um Hirn und Stimme wieder zu sammeln, klatschte der ganze Bus frenetisch Beifall.
Die junge Frau reckte den Hals, rieb die Hände gegeneinander, so als wäre eine lang andauernde Arbeit endlich zu einem Abschluss gekommen, drehte sich auf den Absatz um und fing an schallend zu lachen. Hannah und die Busgesellschaft hatten ihr fasziniert nachgeschaut, während sie mit wippenden und forschen Schritten den Busbahnhof verließ. So sahen Siegerinnen aus, das war für Hannah seitdem klar.
Und auch, dass das Erstschönste am „Auf-den-Bus-warten“ Jim war. Der hatte damals der Szene auch zugesehen und lachend mitapplaudiert. Sein volles und herzliches Lachen hatte Hannah warm umfangen. Was dazu führte, dass sie sich Jim zum ersten Mal, seitdem sie im 12er saß, richtig ansah. Und dann passierte ES. Immer wenn sie an diesen Augenblick dachte, musste das ES in Großbuchstaben sein.
Hannahs und seine Augen begegneten sich für einen kurzen zarten und intensiven Moment. Zumindest Hannah wurde es ganz ulkig im Bauch. Statt schnell auf den Boden zu schauen, hielt sie seinen Blick. So als stünde die junge Frau hinter ihr und spräche ihr Mut zu.
Der allerdings schnell verpuffte und Hannah mit hochroten Wangen zurückließ. So was war ihr ja noch nie passiert. Männer waren nicht so ganz ihr Ding, also lebendige wenigstens nicht. Und jetzt kam dieser sehr lebendige Mann auch noch auf sie zu! Hektik machte sich in ihr breit, die Beine stemmten sich in den Boden, so als wären sie bereit zum Sprung. Und dann fiel ihr wieder Colette ein. Dummheiten machen! Hmm, deshalb war sie doch hier.
Na ja, genau genommen war sie hier, weil sie a) ihre Mutter ärgern wollte und b) anderen beim Dummheiten machen zusehen wollte. Aber warum nicht c) selber welche machen? Schließlich war ihr donnerstäglicher Ausflug in den Augen ihrer Mutter und ihrer Freundinnen ja schon Dummheit genug.
All das schoss ihr in Windeseile durch den Kopf. Und sie entschloss sich, zu zaubern: tauchte die Szene in Weichzeichner, umhüllte sich mit einer Prise Colette und schaute diesen Mann schmunzelnd in die Augen, so als ob sie nie und nimmer je etwas andres getan hatte. Wie gut, dass sie a la Stummfilm zauberte und ihr Herzklopfen nicht über die Lautsprecheranlage übertragen werden konnte.
Ihr kam es später so vor, als hätte sie sich, trotz halber Ohnmacht, mit diesem Mann vom Kiosk, dessen Name Jim war, wie sie sich schwach erinnerte, angeregt unterhalten. „Geht doch!“, murmelte sie sich wieder und wieder zu. Was das genau bedeutete, wusste sie auch nicht, außer, dass es ihr Mut machte. Mut wozu? Auch das wusste sie nicht wirklich. Nur eines war ihr klar, das war ein köstlicher Augenblick für sie gewesen. Diesen Ausdruck hatte sie mal in einem Jane Austen Buch gelesen, auch wenn sie die Dame für äußerst schwatzhaft hielt, mochte sie doch diesen Ausdruck. Ein köstlicher Augenblick! Ja das traf es!
Und so wurden die Donnerstage ihre Sonnentage. Beine baumeln lassen – Menschen begegnen – Jim sehen.
Behutsam hatten sie sich einander genähert, hatten erst kurze, dann längere Sätze gewechselt. Und eines Tages, als ein Sturm den Busverkehr völlig lahmgelegt hatte und das 12er sich bedenklich mit dem Wind schaukelte, hatte sie ihren ganzen Colette-Mut zusammen genommen und ihn in seinem Kiosk besucht. Da stand sie dann in der Tür, durchgefroren, den blauen Umhang eng um ihren schmalen Körper geschlungen, die Reste ihrer Frisur mit allen Winden zerstreut und kurzatmig vor Aufregung.
Sie hatte Glück, Jim war alleine im Kiosk. Er hatte von seinem Buch aufgeschaut, sie in ein strahlendes Lächeln getaucht und dann war alles ganz einfach gewesen. In den Sessel in der Leseecke Platz nehmen, den Umhang ablegen, einen dampfenden Tee in den Händen halten und reden. Über Gott und die Welt, Bücher, Filme, die Menschen, die sie beide kommen und gehen sahen und leider auch darüber, warum Hannah jeden Donnerstag im 12er saß. Sie hatte ihm ausführlich die Leute-Erklärung gegeben. Angefeuert von seinem faszinierten Blick und seinen bewundernden Nachfragen, hatte sie sich immer weiter in die Geschichte von „ich werde genau wissen, wann es der richtige Bus sein wird und den nehme ich dann, einfach so und bin weg“ hineingeredet. Ihre Sätze schienen mit seinen Fragen zu tanzen, seine Fragen mit ihren Antworten zu fliegen, in ihr pulsierte alles lebendig und kraftvoll und sie hatte nur noch Augen und Ohren für Jim. Ihre Geschichte legte sich über seine, seine wob sich in ihre. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie nahe er ihr gekommen war! Das nächste was sie klar erinnerte, waren seine Augen vor ihren Augen, sein Mund auf ihrem Mund. Und dann passierte das Ungeheuerliche: er küsste sie und es war toll! Etwas in ihr entschied sich sofort für „Dummheiten machen mit Begeisterung“ und das hatte sie bis heute nicht bereut!
Hannah schaute sehnsuchtsvoll zu Jims Kiosk rüber. Ach wenn sie doch nicht vorher so einen Unsinn erzählt hätte! Obwohl, vielleicht war der magische Moment ja nur passiert, weil sie ihre Leute-Erklärung mit Verve und Witz vorgetragen hatte? Diese Frage stellte sie sich seit dem denkwürdigen Abend wieder und wieder. Es passte ihr so ganz und gar nicht, dass ihre hin und wieder stattfindenden romantischen Abende im Kiosk, seit neustem ihren Abschluss darin fanden, dass Jim seufzend erklärte, einem Zugvogel wie ihr könne man nur im Flug begegnen.
Sie hätte alles so gerne aufgeklärt, aber sich einfach nicht getraut. Was, wenn er das Unverbindliche mehr liebte als dieser Satz glauben machte? Was, wenn sie sich alles an Nähe nur eingebildet hatte? Was, wenn sie sich öffnete und dann abgewiesen wurde? Was, wenn sie nicht abgewiesen wurde? Ach sie wollte einfach nicht in einer scheußlich nasskalten Wirklichkeit aufwachen müssen. Also hatte sie die Zeit verstreichen lassen, sich nicht erklärt und von Mal zu Mal erschien es ihr noch schwieriger als es das vorherige Mal schon gewesen wäre.
Bis gestern. Da hatte sie in der U-Bahn einen Spruch von Les Brown an der Wand gelesen. „Ziele nach dem Mond. Selbst wenn du ihn verpasst, wirst du zwischen den Sternen landen.“
Und heute war Frühlingsanfang und der 520zigste Donnerstag und vor genau 10 Jahren hatte alles begonnen und Colette wurde auch schon ungeduldig und sie ja nicht jünger und das Wetter war so gut und sie, sie war bis über beide Ohren verliebt. So, jetzt war es raus. Sie hatte den unfassbaren Satz gedacht. Die Beine hörten abrupt auf zu baumeln, ihr schwingender Körper kam zu einem plötzlichen Halt, fast hätte sie die Tasse mit Kaffee fallen lassen. Über beide Ohren verliebt, ja genau das war sie und sie wollte auf jeden Fall zwischen den Sternen landen.
Die Kioskglocke riss Jim sturmartig bimmelnd aus seinen Gedanken, er drehte sich um in Richtung Tür, sah ungläubig auf eine strahlend-abgehetzte Hannah.
„Ich bleib dann mal hier!“

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